Die Autorin Anja Röhl hat erstmalig 2004 in der Literaturzeitschrift Risse, (Rostock), unter dem Titel: Tante Anneliese, zum Thema “Verschickungselend” geschrieben. Des weiteren 2009 in einem Artikel in der Literaturbeilage der jungen Welt: “Und dann bin ich verloren! Hände hoch: Wie war es auf die Nordseeinsel Wyk verschickt zu werden?“ und dann 2013, in dem autobiografischen Roman: Die Frau meines Vaters.

Daraufhin bekam sie im Laufe der Jahre über 500 Zuschriften von Betroffenen mit traumatischen Schilderungen ihrer Erlebnisse.

2019 gründete sie die Webseite: www.verschickungsheime.de, einen Wissenschaftsverein (AEKV e.V.) und initiierte einen ersten Fachkongress zum Thema. Dazu entwickelte sie, zusammen mit Prof. Dr. Christiane Dienel einen Fragebogen, der bis heute ca. 20.000 mal ausgefüllt wurde. Daraus entstand eine breite Vernetzung von Betroffenen und Forschenden zu diesem lange vergessenen Thema. 

2021 veröffentlichte sie das Grundlagenwerk: Das Elend der Verschickungskinder, mit ersten Quellenstudien bundesweiter Verschickungsheime, ca. 400 Zitaten von Betroffenenaussagen und einer ersten Analyse von acht möglichen Ursachenkomplexen. Noch im selben Jahr entstand auch das Porträtbuch: Heimweh-Verschickungskinder erzählen. Seither arbeitet sie weiter wissenschaftlich am Thema.

Schon die ersten Aktivitäten im Jahr 2019 führten zu einem enormen Presseinteresse am Thema, es gab Hunderte von Medienberichten, so dass das Thema im Laufe des Jahres 2019/20 in einen breiten öffentlichen Diskurs kam. Seither organisierte der Wissenschaftsverein AEKV e.V. fünf bundesweite Fachkongresse zum Thema, der 6. ist in Vorbereitung. Auf diesen Fachkongressen werden neueste Forschungs- und Recherche-Eerkenntnisse ausgetauscht, sowie die Vernetzung unter den Betroffenen angeregt.

Auszug aus dem Buch: Die Frau meines Vaters (2013):

Eines Tages sagt die Mutter, der Arzt habe gesagt, sie müsse „verschickt werden“ in ein Heim. Sie sei zu dünn und zu oft krank und solle zu einer “Verschickung“. Dort würde sie gesund werden, bei frischer Luft. Das Wort Heim macht dem Kind Angst. Die Mutter sagt, es sei gut für sie. Das Kind findet das nicht. Statt in die Schule zu kommen, wird sie nun verschickt, bekommt ein Schild um den Hals wie die anderen Kinder auch und wird an einen Zug gebracht. Schüchtern sitzt sie mit fremden Kindern zusammen in der Eisenbahn. Sie fahren nach Wyk. Das ist auf Föhr, einer Insel in der Nordsee. Zu den Erziehern müssen sie Tanten sagen. Das kennt das Kind schon. Die Verschickung dauert sechs Wochen. Nach Hause werden Karten geschickt, die haben die Tanten geschrieben, auf denen steht, dass es den Kindern gut gehe.

Abends liegen sie im Schlafraum. Es ist ein riesiger Schlafraum, mit zahllosen kleinen Feldbetten, graue Decken darüber. Eine Erzieherin ist noch ganz hinten im Raum, kommt aber näher. Das Kind liegt unter der grauen Decke und hat große Angst. Denn die Tante geht von Bett zu Bett und macht etwas Seltsames. Sie nimmt die Hände der Kinder hoch, besieht sie sich und legt sie wieder hin. Was macht sie dann? Sie zieht etwas Weißes aus der Tasche, steckt die Hände der Kinder hinein und schnürt sie mit einem Band unter dem Bett fest. Das Kind beobachtet die Tante und rührt sich nicht, starrt auf die weißen Stoffstücke. Es sind Handschuhe ohne Finger. Plötzlich versteht das Kind: Die Kinder werden mit ihren Händen ans Bett gefesselt…

Durch Recherchen wurde inzwischen viel herausgefunden, unter anderem, dass allein in Westdeutschland über 30 und mehr Jahre, um die 8-12 Millionen Verschickungskinder allein, ohne ihre Eltern in weit entfernte Heime mit der Bahn, zT in Nachtzügen, verschickt wurden, dort von überfordertem, oft nicht pädagogisch ausgebildetem Personal empfangen wurden und Härten erlitten. Erinnert werden in zahllosen Berichten: Demütigungen, Erniedrigungen, Gewalt und auch sexuellen Missbrauch. Durch Aktenstudium ist schon herausgekommen, dass in diesen Heimen Medikamentenversuche im Auftrag der Pharmaindustrie vorgenommen wurden (Belegt für Bad Dürrheim), dass Todesfälle von Kindern durch Verprügeln und Ersticken an Nahrungsmitteln vorkamen (Bad Salzdetfurth), dass Überbelegung und Unterbesetzung in den Heimen die Regel waren. Die Forschung des Phänomens steht noch ganz am Anfang, sicher ist aber, dass diese Vorkommnisse bisher noch niemals Gegenstand der Forschung gewesen sind. Alle Fachdisziplinen sollten sich angesprochen fühlen, dieses bisher von der Geschichte vergessene Thema, dessen Zusammenhänge und Hintergründe zu ergründen. Erste Anregungen dazu hier.

Ich selbst bin mit 5 Jahren (1960) für sechs Wochen, nach Wyk auf Föhr, ins Hamburger Kinderheim und mit 8 Jahren (1963) für acht Jahren ins DRK Heim Johannaberg in Berlebeck verschickt worden. Beide Häuser stehen noch. Ich konnte anlässlich eines Filmdrehs 2024 das Heim in Johannaberg besuchen, was für mich eine sehr entscheidende Erfahrung war. Ein Besuch im HH-Kinderheim auf Wyk wird uns Betroffenen seitens der Ballinstiftung am 6.9.25 ermöglicht. Ein Besuch in diesen Häusern ist für uns als Betroffene sehr wichtig, unumgänglich notwendig und hilfreich für die individuelle Aufarbeitung. Dadurch können wir unsere innere Kinder, die wir in diesen Räumen allein und verängstigt zurückgelassen haben, dort abholen und uns, nun als Erwachsene, auf ihre Seite stellen und ihnen dadurch Kraft geben.

Welche mehr wissen wollen, können auf die Webseite: www.verschickungsheime.de gehen. Diese Webseite ist die bundesweite Webseite der Betroffenen, sie erhält bisher keinerlei Unterstützung oder Förderung, hat aber mit ca 100 neuen Anfragen Betroffener pro Woche zu tun. Über 14.000 haben bereits an einem von uns entwickelten Fragebogen teilgenommen, der internationalen Standards genügt. Dort können sich noch weitere Betroffene melden. Auch einen Newsletter können Sie bestellen, hier:

Die Politik und die Träger müssen sich ihrer Verantwortung stellen, Anfänge dazu sind initiiert.