Schwerstmehrfachbehinderte Menschen – verkauft und verraten? – Fernab von Inklusion und Integration
In der Pädagogik tobt die Debatte: Inklusion versus Integration. Integration reiche nicht. So sagt man an den Hochschulen und schreibt man in den Fachzeitschriften, nachdem man statt Sonder- und Förderpädagogik für jeden eingeführt, dieselbe ganz stillschweigend abgeschafft hat. Nun heißt es, Inklusion müsse her, was soviel heißt wie: Umarmung, Einschluss. Hört sich gut an, kann aber auch, wie im Falle der Integration, in die Richtung missverstanden werden, dass man keinerlei exklusive Pädagogik mehr für “besondere” Menschen bereitstellt, sondern diese auf Normalmaß herunterspart.
Inklusion will sagen, es darf keine gesellschaftlich ausgeschlossene Gruppe geben, die man „integrieren“ muss, es muss jeder und jede umarmt, einbezogen und mitgenommen werden, daraus folge: Mehr Akzeptanz, ein schöneres gemeinsames Leben, größtmögliche Förderungsmöglichkeit für alle. Klingt gut, aber gilt das auch für Menschen, denen man „Schwerstmehrfachbehinderung“ attestiert hat? Man will meinen ja. Nur leider wissen wir leidvoll aus der deutschen pädagogischen Geschichte, dass immer, wenn blumig von Umarmungen gesprochen wird, sich der Blick auf die Benachteiligten und Behinderten recht ungut einzutrüben beginnt.
Und auch in der Pflege ist die Rede von Stimulation und Anregung, Begleitung, Förderung und Entwicklung von Menschen, Wahrnehmungs- und Verhaltensstörungen begegnet man mit intensiver Zuwendung, mit Liebe, mit Wiegen, mit Musik, mit Streicheln, Snoezelen und vielen anderen besonderen Methoden, die seit Jahren erforscht sind. Auch hier heißt es: Inklusion statt Segregation, Normalisierung statt Hospitalisierung. ( s.u.Christel Bienstein und Andreas Fröhlich: Basale Stimulation und Kommunikation in der Pflege)
Wie sieht es aber in der Praxis aus?
Ich habe mich dort umgeschaut, in der Praxis eines x-beliebigen Heimes für schwerstmehrfachbehinderte Menschen. Von meinen Studierenden weiß ich, dass dieses Heim für viele ähnliche steht, kein Einzelfall ist. Der Träger weist dieses Heim als höchst qualifiziert aus, er wirbt, dass hier die Angehörigen Geborgenheit und ein echtes “Heim” vorfänden. Wer gilt als schwerstmehrfachbehindert? Menschen, die den ganzen Tag auf Hilfe anderer Menschen lebensnotwendig angewiesen sind.
Das Heim für schwerstmehrfachbehinderte Menschen in der Stadt G., der Straße K., ist eine durchaus respektable Einrichtung des Z.-Vereins, der ansonsten noch Beratungsstellen, Nachsorgeeinrichtungen, Wohngemeinschaften für ältere Menschen und in einer Studentenstadt ein Behindertenrestaurant führt.
Helle Fensterfront und Gitterbetten
Auf der Station befindet sich ein zu einer hellen Fensterfront geöffneter Mittelraum, hell möbliert mit schönen Sesseln, in der Mitte Tische, gegenüber das geschlossene Schwesternzimmer, verglast, mit zwei angeschalteten Computern. Daneben der Medikamentenschrank, Waschbecken, Desinfektionsmittel, Schreibtischstühle, Blumen auf dem Fensterbrett. Im Zimmer Gitterbetten, holzgebeizt.
Fernseher, Bällchenbad
Es ist eine Stationsschwester im Dienst, sie trägt einen weißen Kittel, sitzt am PC über den Dokumentationen, wo jede Pflegetätigkeit sofort eingetragen werden muss. Eine weitere Schwester hat „draußen“ Dienst, ihr hilft eine unbezahlte Praktikantin. Es gibt keine Heilpädagogin, keinen Spiel-, Bastel-, Beschäftigungs- oder Kunstraum, keinen Sport- oder Entspannungsbereich, keine Bibliothek, kein Buch, keine Zeitungen. Es gibt einen Fernseher, ein Bällchenbad, meist unbenutzt, einen Massagestuhl, ausgesteckert, einen alten zerfetzten, schon tausendmal durchgeblätterten Quellekatalog. Es gibt nur Doppel- und Einzelzimmer und in der Mitte einen Gemeinschaftsraum mit Tischen und Stühlen. Es befinden sich Sofas und Sessel vor einer großen, zum Garten hin offenen Fensterfront.
Gesichtsausdruck angstvoll
Direkt vor dem Schwesternzimmer, im besagten Mittelraum, liegt der junge Mann A., auf einer Art Iso-Matte lang ausgestreckt. Er wirft Kopf und Arme wild hin und her, eine Stereotypie, sich wiederholende Bewegungsmuster, er scheint meine Gegenwart nicht wahrzunehmen, sein Gesicht ist ausdrucksleer. Gegenüber an der Wand ein noch sehr junger, hoch aufgeschossener, anderer Mann mit zarter Haut, rötlichem Haar, in karierter Hose, fast ohne Bewegung, steht er starr, mit großen erschreckten Augen. Ab und an aber schüttelt er sich zitternd, als ob es ihn überlaufe und stößt wilde Schreie aus. Seine Arme, die sonst nach hinten gedreht sind, als hielte sie dort jemand fest, wirft er während des Zitterns und Schüttelns von sich fort, als wolle er sie loswerden. Im Ruhezustand hält er hinter dem Rücken eine dünne Schnur zwischen den Händen, die mehrfach um seine Handgelenke gewickelt ist und die er unablässig zwiebelt, dreht und aufwickelt. Es sieht aus, als spiele er mit Fesseln, die um seine Hände geschlungen sind. Sein Gesichtsausdruck ist angstvoll, gespannt.
Zwei kleine Schlüsselanhänger
Auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers ein etwa mittelalter Mann in Jogginghosen, der auf einem Sessel sitzt und unbeweglich, aber nicht ausdruckslos, vor sich hinschaut, ganz so, als sitze er in einem Cafe, doch wenn man ihn anspricht, reagiert er nicht, auch nicht, wenn Leute an ihm vorüberlaufen. Hinten, am Fenster eine kleine Frau im Rollstuhl, die zwischen ihren Fingern unablässig zwei kleine Schlüsselanhänger-püppchen hin und herschaukelt, diese lacht freundlich und kichert mit dem Fahrer, der sie gerade in den Raum rollt. Sie nickt mir sofort zu, als ich mich vorstelle. Sie spricht sehr leise, fast flüsternd. Sie ist die Einzige dieser Station, klärt mich die Schwester auf, die tagsüber in eine Behindertenwerkstatt gefahren wird und daher “am Tag auch mal was anderes sehe” .
Als segne sie mich
Eine mittelalterliche Frau in dunkellilanem Kleid kommt auf uns zu, sie spricht etwas undeutlich, aber verständlich, begrüßt mich, hält mich fest und beginnt mir ganz viel zu erzählen. Als ich interessiert erscheine und ihr hier und da beipflichte, sagt sie, dass sie mich liebe und streichelt mein Haar, als segne sie mich. Die Frau läuft mehrmals kreuz und quer durch den Raum an den anderen vorbei, als seien es Holzpuppen und tut sehr geschäftig. Eine jüngere Frau, vielleicht fünfundzwanzig, vielleicht dreißig, P., mit lachendem Gesichtsausdruck und rundem Gesicht mit frischer Gesichtsfarbe kommt mit schnellem Schritt aus einem der Zimmer und läuft auf die Schwester und mich zu. “Mutti, wo ist Mutti?” fragt sie. Keiner antwortet ihr. “Mutti, wo ist Mutti?” fragt sie wieder, geht damit zum Nächsten. Die Leute schieben sie, die wieder dieselbe Frage stellt, recht brüsk von sich weg, was keinerlei Wirkung zeigt, denn sie wird nur massiver: “Mutti, wo ist Mutti?” tönt es lauter und lauter. Keinen regt das auf. Niemand fühlt sich zuständig, keiner geht zu ihr hin.
Ich weiß nicht
Ich fühl mich hilflos und sage zu ihr: “arbeiten” , sie tut, als hätte sie nicht verstanden und stellt ihre Frage noch einmal. Dann aber fragt sie, als wiederhole sie: “arbeiten?” Ich sage: “Ja, arbeiten” Sie fragt: “Wann kommt sie?” , ich antworte wahrheitsgemäß: “Ich weiß nicht”, eine Art Gespräch hat stattgefunden. Ihre Augen blicken mich klar an. Nur für eine Minute, dann verfällt sie wieder in ihre stereotype Fragelitanei. Und bedrängt die Schwestern, die sie von sich schieben, wozu sie ihr einen alten zerfetzten Katalog eines Versandhauses in die Hand drücken, mit dem sie diese dann sanft auf ein Sofa drücken.
So beruhigt er sich immer
Es erhebt sich A., der unten auf der Matte gelegen hatte und stolpert ungelenk durch den Raum, er stößt dabei mit ausfahrenden Bewegungen rechts und links Leute an. Es sieht aus, als schlage er um sich. Als ich ihm zufällig in die Quere komme, kneift er mich mit spitzen Fingern. Ich gebe einen Laut von mir, die Schwester kommt, schimpft mit ihm, legt ihn zurück auf seine Matte. Dann stellt sie sich mit beiden Beinen über ihn hin, so dass ihre Füße rechts und links seiner Hüften auf den Boden zu stehen kommen. ” So beruhigt er sich immer”, sagt sie und tatsächlich, für einen Moment lassen sogar die ausfahrenden Bewegungen nach und er sieht versonnen zu ihr auf, sichtlich beruhigt. Mir kommt die vielleicht abwegige Idee, ob sie ihn wohl da einklemmt, wo früher der Bauchgurt lag?
Decke über dem Kopf
Vorne, ganz am Rand der linken Ecke, hinter einem Schrank, liegt noch jemand, völlig zusammengerollt unter einer Decke. Auf den Knieen, Arme und Beine unter den Körper geklemmt, die Decke über Kopf und Gesicht gezogen, lässt diese Person nicht erkennen, ob sie Mann, oder Frau ist. Die über den Kopf gezogene Decke wirkt gespenstisch. “Nicht, dass Sie denken, wir machten das hier, sie will das so!” sagen mir die Schwestern. Keine Bewegung rührt sich unter der Decke. Später, als es essen gibt, wird sie, denn es ist eine Frau, hochgeholt und an den Tisch gesetzt. Sie bewegt sich schwerfällig, unendlich langsam, macht alles mit, was man mit ihr macht, fällt zusammengesunken auf den Stuhl hinter den Tisch, an den man sie führt und isst, was man vor sie hinstellt. Nachher sinkt sie, wie mit in Blei gegossenen Gliedern wieder auf die Matte zurück, sofort Beine und Arme unter sich ziehend, als müsse sie sich schützen, wie eine Schildkröte sich unter ihren Panzer einzieht. Als sie hochgezogen wurde, waren ihre Bewegungen langsam, ziehend, ihr Gesicht wie in einem Schrei stehen geblieben, der Kopf nach hinten geworfen mit einer Geste grenzenloser Hoffnungslosigkeit, die Arme nach unten hängend, in den Beinen einknickend.
Mit meinem Hund zuhause rede ich auch
Beim Essen sprechen die Schwestern mit den Patienten in Imperativen, sie sagen: “Komm her, setz Dich, nimm den Löffel, trink!”. Die Patienten antworten nicht, sie sitzen und warten. Dann wird aufgetan und alle löffeln. Ein Moment der Stille. die stereotypen Bewegungen hören für Minuten auf. “Das ist das Einzige, was sie alle gern machen: Essen!” sagt die Schwester lachend und laut in meine Richtung. ” Unsere Patienten antworten nicht, aber wir sprechen trotzdem mit ihnen, nicht wahr,” sagte sie und unterbricht kurz, indem sie einem über den Kopf streichelt: ” mit meinem Hund zuhause rede ich ja auch, stimmts? Warum sollten diese hier kein Recht darauf haben?”
Mittagsschlaf ab 11.30 Uhr
Um 15 Uhr hat man sie aus ihren Betten, aus dem Mittagsschlaf geholt. In die waren sie nach dem Mittagessen um 11 Uhr “gesteckt” worden, was man sich durchaus wörtlich vorstellen muss, denn man legt sie in die von oben bis unten vergitterten Betten und schließt sie dort ein. Nach dem Kaffetrinken, was ich gerade beobachte, wird schon nach einer kurzen Pause für die Mitarbeiter, um 16.30 das Abendbrot serviert, dann wird um 18.00 der Abend eingeläutet mit all seinen Geschäftigkeiten: Toilettengängen, Waschorgien, Pampern, Mundpflege, Sondensäubern. Alsdann liegen die erwachsenen Behinderten spätestens um 20 Uhr in den Betten, wo sie, zum Erstaunen und Ärger der Mitarbeiter leider oft nicht ruhig schlafen wollen.
Sperrt man sie in Gitterbetten
Da sie also unruhig sind, sperrt man sie erstens in den Gitterbetten ein, schnallt man sie zweitens dort fest, und gibt ihnen drittens Tabletten. Wir haben keine Leute. Achselzucken. Tür zu. An den PC, an die Akten, alles muss dokumentiert werden. Die Zeit fehlt dann auch noch. Jeder der Menschen dort müsste in den Arm genommen, gewiegt, immer angesprochen werden. Die Schwestern bemühen sich, aber sie können es nicht schaffen. So bleibt nichts, als die Vorherrschaft einer rein medizinisch falsch verstandenen Krankenpflege im Sinne von satt, sauber, still in einer Einrichtung für Behinderte, die etwas anderes brauchen. Doch die hier sind nicht „krank“, sie leben ihr ganz normales Leben. Ein anderes haben sie nicht. Als solches muss es lebenswert gestaltet werden. Durch Fördern, Begleiten, Anregen. All das fehlt hier, die Athmosphäre ist kalt, routiniert, uneinfühlsam, von oben herab, künstlich, süßlich, falsch.
Rüttelt an den Gitterstäben
Als ich langsam die Treppe hinab laufe um das Haus zu verlassen, komme ich an einer anderen Station vorbei, mein Blick fällt auf eine offene Zimmertür, hinter der ein etwa 4-jähriges kleines Mädchen mit großen Augen und blonden, sehr schönen hellen, geschwungenen Locken sichtbar wird. Sie ruft laut und klagend: MAAAMAA!!!! Ich kann nicht umhin, mich zu nähern. Sie sieht mich an, intensiviert ihr Rufen, schreit, rüttelt an den Gitterstäben ihres Bettes, sie sieht aus, als sei sie verwirrt, als hätte man ihr etwas Schlimmes angetan, sie ruft wieder: “MAAAMAAAA!” Ich frage eine Schwester, die vorbeieilt, was mit dem Kind sei. “Die kann ganz schön frech werden, passen sie nur auf!” Damit will sie wohl sagen, ich solle mich fernhalten wie vor einem Raubtier. Tatsächlich wage ich mich nicht mehr weiter ins Zimmer. Das Kind sieht mich feindselig an, schreit und weint, ruft erneut: MAAAMAAA! Es sei erst drei Jahre alt, erst ganz kurz hier. “Was hat es denn?” frage ich, “Keine Ahnung”, ist die Antwort, “das müssen die Ärzte noch herausfinden”, die Mutter sei nicht mehr mit ihr “klargekommen”. Ich stehe an der Tür, das Kind sieht mich an, ich versuche ihm gut zuzusprechen, da wird das Weinen lauter, ich stürze davon.
Fazit
Dass Behinderte Akzeptanz, nicht Mitleid brauchen, dass sie ernst genommen werden wollen, ihren Fähigkeiten entsprechend, die in jedem Falle und auf allen Gebieten zu wecken und anzuregen sind, dass ihre Behinderungen in uns liegen, denen wir ihnen keine Gelegenheiten zur Entfaltung ihrer Lebensmöglichkeiten geben, dass sie Menschen, keine Gegenstände, dass sie lebendig, nicht tot sind … das alles gilt es, gegen alle Widerstände, seit hundert Jahren und bis heute noch durchzukämpfen. Aber dazu braucht es Brot, nicht schöne Worte, würde Brecht sagen, in diesem Falle vernünftiges Fachpersonal und nicht Luxussanierung mit Mindestbesetzung.
Weiterführende Literatur:
Bienstein, Christel und Fröhlich, Andreas, November 2003: Basale Stimulation in der Pflege
Bienstein, Christel, Book, Wolfgang u.a.: Bewusstlos: Herausforderung für Angehörige, pflegende und Ärzte, vom Bundesverband f. Körper- und Mehrfachbehinderte, 2000
Tavalaro, J.: Bis auf den Grunde des Ozeans “Sechs Jahre galt ich als hirntod-aber ich bekam alles mit”, Freiburg, 2009
Pandtke, Karl-Heinz: Locked-In – Gefangen im eigenen Körper, Mabuse-Verlag, 1999
Pandtke, Karl-Heinz, Kühn, Christiane, Mrosack, Gudrun und Gerhard Scharbert: Bewegen und Wahrnehmen – Grundlagen der Rehabilitation, 2003)
Bauby, Jean-Dominique: Schmetterling und Taucherglocke, März 2008
Fröhlich, Andreas:
Liebe Genossin Anja, nimm doch bitte mal Kontakt mit mir auf. Ruf mich an, am besten Festnetz 06074-35208, das hat einen AB und sprich Deine Kontaktdaten darauf. Ich möchte unbedingt Kontakt mit Dir aufnehmen und Dich zu unserer Tagung einladen am 3.11. Da gibt es eine AG zum Thema: Kein Kind zurücklassen, Inklusion ist unteilbar: Was bedeutet das?
Ich habe Deine Schilderung des Besuchs in einem Schwerst-Mehrfach-Behinderten-Heim gelesen und das hat mich tief beeindruckt!! Ich habe selbst 5 Jahre an einer KB-Schule gearbeitet und kennen diese Begegnungen aus eigenem Erleben.
Wir müssen unbedingt Kontakt haben: Bitte melde Dich!!!
Deine Barbara Cárdenas
Hab die mail zu spät bekommen, ich antworte per email demnächst