Kinder sind keine Tyrannen
1.6.13 / junge welt / Beilage Kinder
Um Kleinkinder nun überall eilig in Großgruppen mit gering bezahltem Personal unterbringen zu können, müssen sie gehorchen, um ein altes Wort zu gebrauchen, was die heutigen Verteidiger autoritärer Erziehungsprinzipien sich als „hören“ schönreden. Oft müssen sie sogar aufs Wort gehorchen, wie Hunde in einer Hundeschule, weil man sonst nicht “durchkommt”, den Ablauf nicht “schafft”. Sie müssen auf Kommando essen, spielen, austreten, schlafen und ruhig sein.
Das lernen sie durch strenge Eltern und Erzieher eher als durch nachsichtige, die dafür als zu weich gelten. Dies alles wird mit dem Ruf nach Konsequenz heute wieder gerechtfertigt, obwohl als erwiesen gilt, dass Kinder, wenn sie mitbestimmen können, also angehört werden, Entscheidungen also ausgehandelt, statt angeblich konsequent angeordnet werden, viel weniger negative Verhaltensänderungen zeigen.
Erziehung ist ein Produkt gesellschaftlicher Bedingungen
Jedes Gesellschaftssystem entwickelt sich seine eigenen, für die Zwecke, die in dieser Gesellschaft gebraucht werden, nötigen und passenden Erziehungsmethoden. So dass also die Erziehungsmethoden, die jeder als etwas ganz Eigenes, Privates empfindet, auf die er selbst durch eigenes Nachdenken gekommen zu sein glaubt, ein Produkt gesellschaftlicher Bedingungen sind. Dies funktioniert nicht, indem es sich ein Bösewicht ausdenkt und dann die Medien bewusst in diese Richtung lenkt, und alle nickend mitmachen, sondern indem gesellschaftliche Normen und Bedingungen sich schleichend, ausgehend von den Grundbedürfnissen, wie Arbeit, Wohnen, essen, schlafen, lieben, durch all diese Bereiche ziehen und zwar, indem sie einander beeinflussen. Der Mensch möchte sich in einer Gruppe Gleichgesinnter aufgehoben fühlen, und das umso mehr, je zersplitterter sein Alltag wird. Demnach ist er suggestibel, also beeinflussbar und zwar in höchstem Maße. In einem viel höheren Maße übrigens, als es ihm selbst bewusst ist, daraus besteht gerade die Kunst, zB in der Werbung, aber auch in der Medizin, dem Journalismus, der Kunst, aber auch der Liebe, die Menschen über das Unbewusste in ihnen zu erreichen. Es hat vor etwa 150 Jahren eine Heilkunst gegeben, die überaus erfolgreich war, sie nannte sich Magnetismus. Stefan Zweig hat darüber in seiner Freud-Biografie geschrieben. Ein Arzt hatte herausgefunden, dass Magnete in Wasser, wenn Menschen sich darüber an den Händen halten, Leiden lindern. Er war selbst verblüfft als er die Wirkung, selbst bei schwersten Krankheiten, beobachtete. Er forschte lange Jahre, um den Mechanismus zu entdecken, als er bemerkte, dass die heilende Wirkung auch ohne die Magnete eintrat, die Menschen mussten aber daran glauben. Eine psychosomatisch erkrankte Christin machte daraus später eine Heilkunst ohne Berührungen, nur durch Selbstsuggestion, Freud nahm sich dieser Kraft an und untersuchte eingehend seine verschiedenen Wirkmechanismen, mit dem Ziel, den Menschen daraus zu befreien und sein kritisches Ich zu stärken. Heute erarbeiten professionelle Callcenter-Firmenchefs, wie Wallraff aufdeckte, in Inbound- und Out-bound-Geschäften unter Ausnutzung dieser Suggestivkraft Milliardengewinne, allein durch Betrügereien, die sich die Menschen aufschwatzen lassen von gedungenen Untergebenen.
Wird das gesteuert?
Durch die Geschichte hinweg können wir beobachten, dass immer, wenn eine Gesellschaft irgendwo Angriffs- und Eroberungskriege führt, die Regierenden dem Volk einreden, dass es Verteidigungskriege seien. Gleichzeitig entwickeln sich auch repressivere Erziehungsmethoden. Das war in Sparta so, im Wilhelminischen Deutschland, und im Faschismus. Wie geht das zu? Wird das immer systematisch gesteuert? Durch Hintermänner, Geheimdienste, blutige Diktatoren? Vielleicht, mag sein, zB weiß man, dass die Computerspiele zuerst beim CIA Ende der 60-iger Jahre entwickelt wurden, als die Auswirkungen des Vietnam-Desasters die Wehrdienstfreiwilligenzahlen absinken ließen. Natürlich steckte die Hoffnung dahinter, die Kriegs- und Gewaltbegeisterung wieder etwas anzufachen. Das allein reicht aber als Erklärung noch nicht aus.
Noch etwas ist wichtig: Wenn ein Staat soweit ist, dass er Eroberungs- und Angriffskriege führt, meist um dem Land seine Rohstoffe abzugaunern und deren Absatzmärkte auf die eigenen Produkte umzulenken, dann hat er zuhause schon eine Krise, also meist zu wenig Rohstoffe und zu wenig Absatz, im Kapitalismus entsteht wie man weiß, solch eine Situation durch ungebändigtes Privat-Kapitalwachstum bei einigen wenigen Nutznießern, verbunden mit Massenarbeitslosigkeit und Erhöhung des Arbeitsdrucks auf der Seite der Ausgebeuteten. Es sammelt sich dann frei flottierendes Kapital und begibt sich woanders auf die Suche. Zuhause fallen Menschen in Armut, die bessere Zeiten gesehen haben und sich daran berechtigterweise nicht persönlich schuld fühlen, was Hilflosigkeit, Wut, Ungerechtigkeits- und Demütigungsgefühl und massenhaft Aggressionen sich entwickeln lässt.
Kinder sind an der gesellschaftlichen Situation völlig unschuldig
In solch eine gesellschaftliche Stimmung werden Kinder hineingeboren. Diese sind völlig unschuldig und können für diese Situation gar nichts. Sie wurden weder vorher gefragt, noch können sie ihre kindlichen Bedürfnisse, die inzwischen eingehend erforscht wurden, abstellen oder umändern. Sie können auch nichts dafür, dass sie als menschliches Neugeborenes noch ein Jahr brauchen, bis sie auf eigenen Füßen sich von den Bezugspersonen entfernen oder auf sie zulaufen können, und nicht als Fohlen zB schon am gleichen Abend die ersten Schritte tun. Sie sind stattdessen darauf angewiesen, dass man sie ein Jahr lang aufnimmt, wenn sie schreien und sie an den Körper drückt, damit sie sich nicht verlassen, also dem Tod ausgesetzt fühlen. Sie sind darauf angewiesen, dass man ihnen Nahrung, Schlafplatz und Zärtlichkeiten gibt, sie sind darauf angewiesen, dass man sie badet und sauber macht. Ebenso sind sie darauf angewiesen, dass sie bei Schmerzen Hilfe und Trost bekommen, außerdem brauchen Neugeborene vertraute Personen um sich sicher zu fühlen, wiederkehrende Ansprache um die menschliche Verständigungsart zu lernen, vielfältige Anregungen um das Neugierverhalten in Gang zu setzen, denn nur dadurch kann das Gehirn, das bei der Geburt noch kaum strukturiert ist, zur vollen Leistungsfähigkeit gelangen.
Nun fragt sich, wie die momentan so deprimierende gesellschaftliche Stimmung auf dieses Kind im Konkreten durchschlägt. Zunächst führt der relativ hohe Aggressionspegel, konfrontiert mit der Frequenz der wiederkehrenden Säuglingsbedürfnisse dazu, dass es sehr häufig zu Geduldsproben, häufiger noch zu aggressiven Durchbrüchen dem hilflosen Kind gegenüber kommt. Das trifft denjenigen stärker, der seltener mit dem Kind zu tun hat, da ein gegenseitiger Adaptationsvorgang im Normalfall zu einem veränderten, nämlich milderen, empathischeren Gefühl verhilft, zB ist nachgewiesen worden, dass eng mit Kindern zusammenlebenden Menschen in den Bereichen Empathie und Flexibilität Gehirnzellen wachsen (Synapsenvernetzungs- und damit Hirnvergrößerung bei Müttern in den ersten drei Monaten).
Da aber nun die Arbeitshetze sowohl bei den aus dem Arbeitsleben an Behörden weitergereichten Arbeitsamtskunden, als auch bei denen, die noch im Arbeitsleben drin sind, derart angezogen hat, wie es Günter Wallraff und andere investigative Journalisten immer wieder anschaulich beschreiben und als frühkapitalistisch geißeln, dass man immer länger für immer weniger Geld arbeiten muss und dass sich daher allein die Zeit, die man mit dem neugeborenen Kind real verbringt, extrem stark verringert hat. Alarmierend sind zB Berichte von Tagesmüttern, (die ich selbst seit 2006 in Mecklenburg-Vorpommern ausbilde), sie erzählen davon, dass sie Kleinkinder im ersten Lebensjahr oft täglich bis zu 12 Stunden betreuen, die dann von ihren Eltern nur noch ins Bett gebracht und aus dem Bett geholt werden und ihnen dadurch erfolgreich entfremdet werden. Oft wird dies sogar vom Jugendamt verlangt, angeblich schade das den Neugeborenen und Kleinkindern bis zum 3 Lebensjahr nicht.
Überlastungs- und Aggressionsstimmungen schaffen den Rückschritt
Problem ist nur, dass die oben beschriebene allgemeine Überlastungs-, Wut-, Verzweiflungs- und Aggressionsstimmung, mit Kinderbedürfnissen konfrontiert, die man weniger als zwei Stunden täglich am Stück erlebt, schneller zu aggressiven Durchbrüchen führen kann. Es wirkt dann die Fremdbetreuung nicht mehr als Entlastung, was gut für die Geduld den Kinderbedürfnissen gegenüber sein könnte. Nein, es wird dann eine institutionelle Erziehung meist ebenso gestresster und überlasteter Erziehungspersonen zur Hauptbetreuung, was den Teufelskreis aus Missdeutungen, Kommunikationsstörungen, Mangelerlebnissen und neurotisierenden Faktoren in Bezug auf die Eltern noch um ein Weiteres anfacht.
Gutsituierte Mittelstandseltern und deren Kinder merken von dieser Verschärfung der Situation auf dem Gebiet der Kindererziehung meist nicht so viel, da sie sich noch Nischen suchen können, innerhalb derer den Bedürfnissen der Kleinkinder noch besser nachgegangen werden kann. Für die anwachsende Zahl derer, die sich jeder Arbeit fügen müssen, um nicht in Hartz IV zu landen, ist dies aber trauriger Alltag.
Was sind nun die Missdeutungen, Kommunikationsstörungen, Mangelerlebnisse und neurotisierenden Faktoren und wieso bewirken diese eine allmählich sich stärker restaurativ und also wieder mehr repressiv sich ausrichtende Erziehungspraxis und-theorie?
Kinderbedürfnisse werden missdeutet
Missdeutungen finden vor allem auf dem Gebiet der vollkommen natürlichen und einfachen Kinderbedürfnisse statt, die weltweit von Entwicklungsforschern nachgewiesen wurden und in Abwandlung eine Art Säugetiermuster darstellen, man findet sie auch ähnlich bei unseren nächsten Verwandten, den Affen. Meist werden diese neuerdings als Bindungsmuster bezeichnet. Rene´Spitz entdeckte sie schon1911 im Rahmen seiner Hospitalismusforschung und John Bowlby beobachtete und filmte sie auf jedem Kontinent, in den abgelegensten Gegenden der Erde. Fazit seiner Forschungen: Je geborgener und einfühlsamer den Befindlichkeiten eines Säuglings in einer bestimmten Weise nachgegangen wird, desto früher werden diese sicher gebundenen Kinder frei und unabhängig, je früher sie aber aus dem Nest gestoßen, ihre Geborgenheitsbedürfnisse nicht oder höchst unzulänglich sie befriedigt werden, desto anhänglicher und aufdringlich-distanzloser, also unfreier werden diese Kinder.
Ungeduld, nur geringes Kennen und Verstehen der eigenen Kinder, eigenes Gestresstsein und unterdrückte Wut führt also zunächst immer häufiger dazu, dass diese natürlichen Bedürfnisse, wie zB einen 10-fach höheren Bewegungsdrang als Erwachsene, in Richtung willentliches Ärgern und Absichtlichkeit interpretiert und vorwurfsvoll unterbunden werden. In dem Zusammenhang wird Weinen als „Bocken“ bezeichnet und dem Kind als absichtliches „Nerven“ angelastet, nur weil es angeblich etwas „haben“ wolle, worum es dem Kind meistens gar nicht in Wahrheit geht. Angeblich scherzhaft gemeinte Schimpfworte wie Scheißerchen, Schieter, Pubser usw. dienen allein der eigenen Wutabfuhr, aber nicht dem Kind, über die derjenige sich lustig machend erhebt, statt ihm in Würde zu begegnen.
Sehr oft wird das Kind auch „verarscht“, also scherzhaft angelogen, mit seiner Eigenart Gefühle im Gesicht noch sichtbar zu machen, aufgezogen, Kinder werden auf offener Straße lauthals beleidigt, ihre Unruhe und Langeweile wird als mutwilliges Erwachsenennerven, die Fremdheit und Schüchternheit als Unhöflichkeit und die Verzweiflung und Trauerwut über die langen Trennungen als Ungezogenheit interpretiert.
Derart missverstandene Kinder sehen sich ständig bei den Erwachsenen in einer Dauerschuld, gegen die sie versuchen sich zu wehren, was dann zu übertriebenem Trotzverhalten führt, welches dann die Miss-Interpretationen der Erwachsenen nur noch weiter zu stützen scheint.
Trendliteratur in der Pädagogik greift das auf
In dieser Situation treten dann selbsternannte Experten auf den Plan, die weniger durch psychologisch-pädagogische Forschung, als durch den Wunsch geleitet werden, massenweise gehört und gelesen zu werden, also Umsatz zu machen. Sie greifen die von ihnen beobachteten Massenphänomen auf und machen daraus Bücher, die Absatz finden und sich selbst eine Karriere, die sie anders nicht zustanden bringen. Daraus entstehen Trends.
So wurde zB der Trend mit dem „Grenzen setzen“ geboren, wegen der angeblich so großen Gefahr des „Verwöhnens“, von dem man letztens mitten im Nazideutschland gesprochen hatte, sowie der Trend, jede Unruhe, jede Konzentrationsstörung eines Kindes, für die es Millionen verschiedene Gründe geben kann, denen man differenziert nachgehen müsste, zB überfordernde Erlebnisse, als ADHS zu interpretieren, also dem Kind ursächlich als Krankheit anzulasten.<
Dieses stützte besonders die Pharmaindustrie, die dadurch ihre chemischen Präparate in Millionenumsätze bugsieren konnte. Auf der Strecke blieben alle pädagogisch-psychologischen und soziologischen Ursachen, damit aber auch all diese Einflussnahmen, so dass unruhige Kinder heute wieder auf Gedeih und Verderb medizinisch pathologisiert werden.
Auch so ein harmloser Trend, die Kinderwägen mit Tüchern zuzuhängen, angeblich gegen die Sonne, die Babys eng und bewegungsarm zu wickeln, angeblich gegen die Unruhe, sind rückwärtsgewandte Trends, die einer repressionsreichen, also eher unfrei machenden Pädagogik zuzurechnen sind.
Solche Ideen setzen sich dann durch, wenn ihre Zeit gekommen ist. Die Kinder werden heute auch deshalb schneller als unruhig empfunden, da die Menschen in immer kleineren Wohnungen auf immer engerem Raum zusammen leben müssen. Aber vor allem, weil ihre Eltern unzufriedener mit ihrem Leben sind und daher schneller die Geduld verlieren.
Kinder müssen heutzutage früher lernen, dass ihr Schreien niemand heranholt, weil ihre Eltern einfach zu kaputt abends sind, um noch die Geduld für solch selbstlose Tätigkeiten im Namen der Empathie zu entwickeln.
Und damit Eltern und Erziehungspersonal deswegen keine Schuldgefühle entwickeln, haben sich allein aus diesem Erwachsenenbedürfnis heraus entlastende Trend-Theorien entwickelt, die sich dann bis in die Wissenschaft hinein entwickeln. Diese suggerieren den Eltern zB , sie hätten zuhause kleine Tyrannen sitzen, die ihnen das Leben ordentlich schwer machen wollten.
Auch hier ist es in seltensten Fällen gesteuerte Absicht konservativer pädagogischer Kreise, sondern die pädagogische Trendlektüre entspricht einfach den aktuellen gesellschaftlichen Erfordernissen und erreicht dann auch dieses spielend: Die Eltern in solchen gesellschaftlichen Situationen von Schuldgefühlen befreien, weshalb die Trendtheorien dann auch begierig aufgesogen werden.
Krisen schaffen Rückwärtsentwicklung
So entwickeln sich schleichend repressivere Erziehungsmethoden besonders in gesellschaftlichen soziologisch bedenklichen kapitalistischen Krisen und fördern massiv Rückwärtsentwicklungen und Fachleute fragen sich fassungslos, wer denn damit eigentlich angefangen hat. Zunächst erwidern die seit Jahren das Gegenteil erforschenden Professoren noch die Trendlektüre und beschäftigen sich in umfangreichen Promotionen mit haufenweisen Gegenargumenten, aber sie werden nicht zur Kenntnis genommen. Im Trend liegt das Gegenteil und was viele denken und tun, wovon alle ständig reden, das scheint dann bald das Übliche zu sein, und dem folgt man, allein um dazuzugehören. Und die Lüge wird durch die hundertste Wiederholung allmählich zur angenommenen Wahrheit.
Auch hier mögen Steuerungen zugrunde liegen, zB die hohen staatlichen Förderungen der Gentechnik, aber im Wesentlichen trifft auch dieser Trend auf das gesellschaftliche Bedürfnis der unter Druck stehenden Bezugspersonen, sich von Schuldgefühl zu entlasten, und des Staates, sich vor der Übernahme von gesellschaftlich teurer Erziehungsarbeit und also Verantwortung für die nächsten Generationen zu drücken.
Dass also momentan überall, besonders in den ärmeren und unzufriedenen, prekarisierten Schichten repressive Erziehungsmethoden und konservative Erziehungstheorien wieder fröhliche Triumphe feiern, wie man überall sehen, hören und lesen kann, dafür braucht es also gar keine Verschwörungstheorie, das kommt ganz von allein, ist Ergebnis der schleichend die Gesellschaft durchziehenden Gifte der staatlich geförderten Enteignung, Verarmung, Entwurzelung, Entsolidarisierung, Verrohung und Verzweiflung.
Was ist zu tun?
Kann man also gar nichts tun? Wie war es in anderen Jahrhunderten? Selbst unter den schlimmsten gesellschaftlichen Bedingungen gab es immer welche, die eine andere Auffassung hatten als die Masse und der Trend vorschrieb. Es gab immer auch welche, die sich der Kinder annahmen. Oft weil sie selber eine schwere Kindheit hatten und dadurch Empathie entwickeln konnten, die besten Impulse gingen oft auch von denen aus, die besonders den ärmsten, den sogenannten „gestörten“ Kindern zu helfen versuchten.
Comenius, Rousseau, Itard, Montessori, Wichern, Pestalozzi, Freinet, Korczak u.v.a. haben versucht und aufgeschrieben: Sie trafen verzweifelte, vermauerte, zuckende und apathische Kinder, Kinder, die einnäßten und sich unsozial verhielten, Kinder, die verschlagen und grausam waren – und die dann lernten, sich sozial zu verhalten, einzig durch Liebe und Ermutigung und Anregung. Sie lernten, weil die Erwachsenen an sie glaubten. Pädagogische Projekte, Häuser, Heime, Schulen entstanden, in denen diese Kinder erweckt wurden, aufatmeten, fürs Leben ermutigt wurden.
Dieserart mutige Menschen, die es wagten sich gegen den Trend zu stellen, sowie gegen amtlich propagierte Haltungen agierten, haben immer wieder entdeckt und erforscht, dass Kinder, die sich ihrer Bedürfnisse nach Geborgenheit Liebe, Zuwendung und fördernder Anregung, dadurch dass sie sie von liebevollen Erziehern bekommen, bewusst sind, unter repressiven Umständen stärker quengeln, unruhig bis aufmüpfig werden und also dann genau diejenigen als besonders schwierig gelten, die im eigentlichen Sinne gesünder sind als die übrigen, die Angepassten. So war den Reformpädagogen, die sich von jeher gegen autoritäre Erziehungstrends in der Geschichte gestellt und immer für den Einzelnen stark gemacht haben immer klar, dass man also im Bereich der Schwierigen ansetzen müsse. Da, wo ein Ansatz von Gegenwehr zu erahnen ist, da wo Symptome, freigelegt, den Wunsch sich aufzulehnen, enthüllen. Da muss man ansetzen um den herrschenden Restaurationsentwicklungen gegenzusteuern. Die 68-iger beschrieben Ähnliches in ihren Randgruppendiskussionen. Sie befreiten Heimkinder und ließen eingesperrte Menschen mit Behinderungen frei. Wo welche Hilfe brauchten, legten sie Wert auf Stärkung statt Schwächung der kindlichen Persönlichkeit.
Abwertungen von Kindern entgegentreten
Darauf sollten wir uns rückbesinnen und uns wieder den problematischen Kindern zuwenden. Sie sind unschuldigsten Opfer der Akkumulationskrisen des Kapitals. Aufgabe der Pädagogen ist es hier, wieder den Umweltaspekt zu stärken und den Trend nach Konsequenz, Härte, Abwertung von Kindern und ihren natürlichen Bedürfnissen nicht mitzumachen, bzw. an jedem Punkt unserer Arbeit mit Kindern gegenzusteuern. In Praxis und Theorie.
Dabei muss man ermutigen, anregen und an die Kräfte der Kinder glauben. In den meisten Kindern ist eine enorme Kraft angelegt. Sofern sie nicht von Anfang an gebrochen wird, ist sie die Quelle, aus der der Pädagoge schöpfen, anstatt dass er sie unterdrücken muss. Von den Bedürfnissen der Kinder her muss Pädagogik aufbauen, von den Ideen der Kinder her, von ihren Gefühlen herkommend Lösungen anbieten. Gehen wir in der Erziehung diesen unkonventionellen Weg, so werden es unsere Kinder uns einmal danken, da sie dadurch freier werden und sich besser gegen Unfreiheiten wehren können, gehen wir diesen Weg nicht, laufen wir Gefahr, dass wir und unsere Kinder vom herrschenden gesellschaftlichen Mainstream überrollt werden, der dazu beiträgt, dass wir alle immer gefügiger werden. Das ist gegen das Denken und gegen den Fortschritt und gegen jegliche Weiterentwicklung.