Russendisco in Greifswald – Theaterrezension
Im Theater Vorpommern (Stralsund, Greifswald, Puttbus) wird zur Zeit unter der Regie von Thomas Roth erfolgreich die “Russendisco” uraufgeführt.
Der Bestseller des jüdisch-russischen Einwanderers Vladimir Kaminer liegt neuerdings als Theaterstück vor, es wird als Einwandererfarce gespielt, allerdings nur mit wenig Anklang an die neuerlichen Flüchtlingsströme. Doch man erfährt immerhin über die Schwierigkeiten hierzulande anzulanden, muss man doch im Einwandererfragebogen ankreuzen was und wie man frühstückt und nachdem ein fiktiver Streitfall mit Nachbarn beschrieben wird, kommt die Frage: Wie würden Sie reagieren? Da darf man als eine Möglichkeit ankreuzen: Erschlagen Sie den Nachbarn?
Aldibier am Bahnhof Lichtenberg
Der Hauptdarsteller Wolodja ( sehr witzig-naiv gespielt von Dennis Junge) ist das Alter ego von Kaminer und wirkt als einer, der sich immer wundert und durch das ganze Stück führt. Er geht mit seinem Freund Andrej (Alexander Zieglarski kann ihn wunderbar proletarisch spielen) zur jüdischen Gemeinde, weil es da Essen umsonst gibt, als sie sich aber beschneiden lassen sollen, fliehen sie von dort wieder, dann sitzt er mit ihm und verkauft am Bhf. Lichtenberg Aldibier, was keiner kaufen will, später entdeckt Andrej durch einen anderen Aussteiger aus der SU, den fiesen, kalt und ausbeuterisch gewordenen Sergej (Jan Bernhard, einer der großen Charakterdarsteller im Theater Vorpommern, er spielt sämtliche Nebenrollen, jede anders, wirklich große Leistung !) seinen Wunsch reich zu werden und fährt so seine Beziehung gegen den Baum, dazwischen kommen die Eltern zu Besuch und beschließen zu bleiben, und am Ende wird Andrej ein Kämpfer bei Putin, der in der Ukraine kämpft.
Vom Realsozialismus zum Turbokapitalismus
Es gibt witzige und Einwanderer-typische Passagen. Das Stück lebt aus der Naivität der sympathischen Hauptfigur gegen die Widrigkeiten seiner neuen und kompliziert zu durchschauenden Umgebung und dem inzwischen etwas veralteten Widerspruch des Aufwachsens im alten realsozialistischen System und Ankommen im Turbokapitalismus.
Gefahr der Ohnesorgtheaterisierung
An vielen Stellen wird aber etwas sichtbar, was auch im Kaminer-Buch enthalten ist, nämlich, dass sich oft über die Menschen lustig gemacht wird, ohne zu größerer Hintergrundtiefe zu gelangen. Das macht leider die Figuren einfarbig und damit auch etwas langweilig: An der Darstellung der Eltern ist das Einprägsamste die verschroben-egomanische Mutterliebe, gegen die sich der Sohn vor allem wehren muss; an der Darstellung des alten Onkels, als Weltkriegsveteranen, bleibt nichts, als dass er alte, damals von Deutschen erbeutete Uhren aus der Tasche zieht, womit ein sehr deutsches Vorurteil bestärkt wird; bei der Darstellung des jüdischen Rabbi werden in Figur, Kostüm und Körpersprache auch irgendwie unangenehme Klischees bedient, und so geht es im Grunde durch alle Figuren außer der Hauptfigur, die sich selbst als lieben Jungen allen anderen Personen kontrastierend entgegenstellt. Das birgt die Gefahr der Ohnesorgtheaterisierung.
Wunderschöne russische Wutmusik
Das Stück war zu Anfang stärker, als noch die schweren Einwandererbe-dingungen in den Straßen der Stadt, an den Bahnhöfen ohne Obdach und Geld gezeigt wurden, die wunderschöne russische Wutmusik aus den Lautsprechern dröhnte, wird dann mehr und mehr klischeehaft in den Phasen der Kleinkriminalität und Jobsuche. Dort ist allerdings gut dargestellt, wie die leichte Verführbarkeit durch Geld den Charakter versaut, (Andrej kann nichts anderes mehr als zählen). Es folgt die Phase des Familiennachzugs, wo die Eltern durch Kaufhäuser tingelnd beschrieben werden, und wird am Ende, als das Stück sich in aktueller Politik versucht, schwächer.
Bild plötzlich etwas schief
Da sitzt dann Putin im Fernsehen und wird ohne jeden Beleg (als verstehe sich das von selbst) als großer Diktator bezeichnet, da wird plötzlich das Genre verlassen und in der letzten Szene politisches Dokumentartheater versucht, da wird das Bild plötzlich etwas schief, weil es nur noch einseitige Schuldzuschreibung gibt. Da wird das Stück plötzlich zu einem Mosaikstein im herrschenden russlandfeindlichen Mainstream. Da sieht man Andrej, der erst reich werden wollte im Kapitalismus, der dann um seine Freundin trauerte, ihr in den Donjez nachreiste und der nun in Kämpfermontur sein Gewehr vor Ruinen reinigt, und wie ein Gehirngewaschener redet.
Großartige schauspielerische Leistungen
Es gibt großartige schauspielerische Leistungen! Besonders an diesem Abend, krankheitsbedingt fällt Anna Luise Borner aus und wird durch Fredericke Duggen ersetzt. Sie macht es großartig, sie gibt die Marina wunderbar typisch und die leicht hysterische Art passt sehr gut zu dieser Rolle. Auch Lutz Jesse als Vater gibt den Vater sehr typisch und warm, versucht der Rolle Tiefe zu geben, Jan Bernhard aber, der im Laufe des Stückes sämtlichen Nebenfiguren Gestalt und Charakter gibt, der mit Lutz Jesse zusammen seit Jahrzehnten die großen (meist bösen) Charaktere des Theaters Vorpommern gibt, spielt äußerst variantenreich und gibt jeder Figur eigenen Witz.