Amir – von Nicole Oder am Berliner Ensemble BE. – Rezension
Berliner Ensemble, kleine Bühne, nichts für Rollifahrer, der Fahrstuhl ist noch nicht gebaut, man muss Treppen hochsteigen, die Bühne ist schwarz, bei Eintritt sieht man eine sich um ihre Mitte drehende riesige Betonmauer, die von vier jungen Leuten in Trainingsklamotten angetrieben wird. Die Zuschauer strömen in den Raum, die Protagonisten auf der Bühne rennen und keuchen.
Auf der stehenbleibenden Mauer sieht man den Namenszug AMIR als Videoprojektion auftauchen und die Strichzeichnung eines kleinen Männchens, eine Kinderzeichnung. Dann beginnt ein herrischer Mann zu sprechen, sein Konterfei tritt als riesiger Kopf neben das Strichmännchen, er fragt Lebensdaten ab: Geboren: Wann? Wo? Ein junger Mann, vorn auf einem Stuhl sitzend, antwortet: Palästina, so notiert der Beamte: Staatenlos. Als er weiterfragt: Augenfarbe?, antwortet der Mann: Braun, der Beamte notiert: Schwarz! Danach erklärt er ihm umständlich, dass er nur eine Duldung bekäme. Der Mann springt auf, dreht sich zudem Mann um, meine Augen sind schwarz, verflucht nochmal, schwarz!
300.- Euro – und nie in der Lage die Familie zu ernähren
Von da ab rollt das Drama einer palästinensischen Flüchtlingsfamilie ab, die in den 80 er Jahren mit drei kleinen Kindern aus Sabra und Schatila geflohen ist, aber in Deutschland seit 30 Jahren keine Arbeitserlaubnis, nur Duldung bekommen hat. Die Generation der Kinder wächst heran, es kommt noch ein Kind hinzu, das bekommt die deutsche Staatsbürgerschaft, die drei anderen haben,wie Vater und Mutter, seit ihrer frühesten Kindheit nur die Duldung. Die Generation der Eltern ist tief resigniert, Verzweiflung ist längst in die Depression gekippt, bietet den Kindern ein Bild der Schwäche und des Jammers. Und da sie immer auf dem Asylgeld – Level von 300.- Euro im Monat gelebt haben, empfinden die Söhne tiefste Abscheu vor ihrem Vater, der in ihren Augen nie in der Lage war, seine Familie zu ernähren. Sie selbst sind seit der Vorpubertät in der Kriminalität zuhause, haben sich dort vielfältig nützlich gemacht für den Familienhaushalt, mit dem Abzocken von Mitschülern, mit kleinen und größeren Betrügereien, mit Diebstählen, später Überfällen, füllen sie seit Jahren den Familienkühlschrank und die Kleiderschränke auf.
Sie wissen doch genau
Im Amt, die Szene wird ständig zwischengeschoben, bettelt Amir jedes Mal darum, endlich die Anerkennung und damit die Arbeitserlaubnis zu bekommen, aber nichts,mit Hinweis auf seine Vorstrafen, die sich allmählich ansammeln, verwehrt man es ihm. „Sie wissen doch genau, dass ich mir das Geld dann woanders beschaffen muss! Ich will mein Abitur und arbeiten, verflucht nochmal!“
Aber es wird nichts draus, die Sache eskaliert immer mehr. Ein Überfall, ein Schussverletzter, Knast. Dazu kommt eine Liebe, Amir hat sich in Hannah verliebt, will mit ihr ein neues Leben anfangen.
Zur falschen Zeit geboren
Wie Menschen sich in widrigen Lebensbedingungen, von denen der normale Theaterbesucher keinen blassen Schimmer hat, bewähren müssen, welchen Qualen sie ausgesetzt sind, nur weiße zur falschen Zeit in die falsche Familie hineingeboren wurden, das wird hier sehr kunstvoll auf die Bühne gebracht. Dabei hat Nicole Oder das Drama des Mario Belazar, das als Textheft mitgeliefert wird, von der Mitte her aufgezogen, sie hat es im übrigen sehr frei interpretiert, aus der Schwester als Balletttänzerin macht sie eine für die Boxmeisterschaft trainierende, vieles wird in Rückblenden erzählt, immer wieder bricht sie den Erzählfluß ab, lässt neue Szenenstücke beginnen, unterbricht durch Lieder und Raps. Dadurch wird ein enormer Spannungsbogen erzeugt, die Figuren wirken wie leibhaftig aus der Karl-Marx-Straße, die Wirkung auf einen selber wird erst nach zwei Tagen klar, da geht man mal wieder zufällig ins Rollbergviertel oder auf die Hermannstraße und da sieht man die jungen Männer und Frauen nun mit anderen Augen an, interessierter, fragender. Welches Drama verbirgt sich hinter ihren teuren Autos, ihrem Machogetue, ihren frisch gestylten Haaren?
Und dabei drängt Nicole Oder die 2. Generation Flüchtlingskinder nicht in eine Opferrolle hinein, im Gegenteil, sie macht klar, dass sie genau diese absolut nicht einnehmen wollen. Eine klare Positionierung für eine andere Asylpolitik, das ist dieses Stück, und großartig gemacht! Es lohnt sich zweimal hinzugehen!
Mitten rein
Und den Namen „Nicole Oder“ den sollte man sich merken! Das Stück „Amir“ von Nicole Oder ist wirklich eines der besten Stücke, die ich in den letzten zehn Jahren über Flüchtlingsproblematik gesehen habe. Es geht unter die Haut, es wühlt auf, es bringt einen nicht nur nah an die Flüchtlings- und Welt-Politik ran, sondern setzt einen mitten rein. Mit Arabqueen, Arabboy hat Nicole Oder seit 2009 im Neuköllner Heimathafen Stücke inszeniert, die dort noch heute vor ausverkauftem Hause boomen. Geboren 1978, ist sie inzwischen Mitglied der künstlerischen Leitung des anderen Volkstheaters in Neukölln.
Unserer Gesellschaft den Spiegel hinhalten
Schon 2004 inszenierte sie in Berlin Projekte mit dem Obdachlosentheater Ratten 07 und zeigte schon da, wie gut sie den Ton ausgestoßener Bevölkerungsgruppen punktgenau trifft. Ich erlebte ihre Obdachlosentheaterprojekte, ich sah Arabqueen und Arabboy, ich sah „Der falsche Inder“ im Münchner Volkstheater, ich sah „Baba oder mein geraubtes Leben“ in Neukölln, ich sah „Glückskind“ in Rostock. Und jedes dieser Stücke war einfach genial und traf die Wahrheit in den Verhältnissen, in denen wir leben, genau. Ohne Schnickschnack, ohne formale Überbetonung, mit einer dem Volk abgeschauten Sprache, ja unter Einbeziehung der Menschen selbst, die in diesen Verhältnissen geboren sind und sie kennen, schafft sie es, unserer Gesellschaft den Spiegel hinzuhalten, spannend zu sein, künstlerisch schöne Choreografien und Bilder zu liefern, und Dialoge treffsicher und authentisch zu gestalten. So sah es auch das Publikum, dass ihr kürzlich in München den Publikumspreis verlieh.
Gesellschaftliche Demütigung als Ursache von Kriminalität?
„Amir“ von Nicole Oder beginnt anders, als der Autor des Stücks, Mario Salazar, es konzipiert hat, es setzt politischer an, schildert zunächst, was ihm alle sechs Monate auf dem Amt passiert. Es beschreibt sein Leben chronologisch in Rückblende, aber betont stärker die gesellschaftliche Demütigung, die ihm jedes Jahr bei der Ausländerbehörde passiert, wobei ihm das Leben vorgeworfen wird, dass er nur wegen ihnen und ihren menschenfeindlichen Gesetzen führen muss. Immer wieder dieses: „Melden Sie sich in sechs Monaten wieder!“. Und so ein Staat spricht von Demokratie und Grundgesetzen, in denen Menschenrechte garantiert seien! Ein Hohn! Das wird dem Publikum klar. Eines wird klar: Der Junge Amir kann seine Würde nur mit kriminellen Taten wahren. Anders geht es nicht. Fatal! Tamer Arslan spielt den Amir sehr gut, man glaubt ihm den Abiturienten, der es weit bringen würde im Leben, wenn er nicht an die Ausländerbehörde und seine windigen Beamten gefesselt wäre. Man glaubt ihm den Liebenden, mit großer Sehnsucht auf ein anderes Leben. Man glaubt ihm das alles, weil er spielt, wie einer von Nebenan. Das Kollektive Schicksal, er bringt es zum Ausdruck. Man hat noch lange nachzudenken.