The Summit – Berlinale-Rezension
jw/ Feuilleton / 14.2.12
Im Ernstfall ist mit dem neuzeitlichen Imperialismus nicht zu spaßen. Der Dokfilm »The Summit« beginnt mit Bildern gepanzerter Marsmenschen, die in Kleingruppen wie im Blutrausch einzelne, am Boden liegende, Ungeschützte traktieren.
Beim G-8-Gipfel vor elf Jahren in Genua wurden die Demonstranten von diesen prügelnden Horden ähnlich überrascht wie jetzt die Zuschauer. Franco Fracassi und Massimo Lauria sind kluge, linke Regisseure. Ihre Filme zu Afghanistan, dem ermordeten Politiker Aldo Moro oder der rechten Sekte Opus Dei zeigen Hintergründe auf, ohne zu langweiligen.
»The Summit« (Der Gipfel) ruft nun die Gewalt in Erinnerung, die 2001 in Genua über 300000 Ahnungslose hereinbrach; angezettelt oder Ergebnis »bedauerlicher Umstände«, wie vielfach Glauben gemacht werden sollte, in jedem Fall aber mit der Hoffnung behaftet, der weltweiten Bewegung der Globalisierungskritik den Hals zu brechen. Wer einmal in solch einem brennenden Kessel voller Tränengas den enthemmten Bewaffneten ausgeliefert war, begibt sich nicht so schnell wieder in so eine Situation. Er wird vielleicht danach lieber erstmal die Einzelnen in seiner Umgebung verändern wollen, da man gegen die Zustände ja machtlos sei. Die, die im Film zu Wort kommen, haben diesen Schluß nicht gezogen, aber man sieht ihnen deutlich an, daß die Tage ihr Leben entscheidend zum Negativen hin verändert haben.
Der Film läßt sie zu Beginn und im Abspann einzeln vor dunklem Hintergrund ihre Erlebnisse schildern. Der Anfang ist künstlerisch sehr eindringlich. Das Bild der ersten Augenzeugin entsteht aus einem Gemälde Edvard Munchs, bei dem die Filmemacher auf dieselbe verzweifelt-erschütterte Körperhaltung stießen. Die Berichte der Augenzeugen gehören zu den überzeugendsten Sequenzen, da die Bilder hier – anders als in den donnernden Prügelszenen – im Kopf des Zuschauers entstehen.
Viele Informationen sind Eingeweihten bekannt: Die systematische Provokation, angeblich von Leuten des schwarzen Blocks, in Wahrheit, wie hier wieder gute Argumente belegen, durch Polizeileute, die man einfach genauso angezogen hatte; das völlige Desinteresse der Polizei an diesen Leuten; die Einkesselung friedlich feiernder Massen in engen Straßen; der Angriff auf Badende vom Wasser aus (»wie die Landung in der Normandie«, ein Augenzeuge); das Prügeln und Vor-sich-Herjagen von Kindern und Alten; das Abwerfen von Tränengasgranaten aus Hubschraubern und am Ende das nächtliche Stürmen der Schulen, wo Schlafende unter Schlachtrufen (»We kill you all!«) mit metallbewehrten Konchas verprügelt wurden. Man hört die Schreie, während die Kamera von außen in die hell erleuchteten Fenster der Schule blickt, eine Augenzeugin wird »die unmenschlichen Schreie, die überall zu hören waren, niemals vergessen. Ich höre sie jede Nacht«. Nachher werden die Opfer blutüberströmt hinausgetragen, und auch wenn man das schon gesehen hat: Es nimmt mit, macht wütend.
Leider ist der Film etwas redundant. Manche Szenen werden doppelt und dreifach gezeigt, erst mit dem offiziellen Kommentar von damals, dann mit dem, was sich nachher herausgestellte. Ein ermüdender Kunstgriff, schon weil man bei zuviel Gewalt dazu neigt, innerlich abzuschalten. Die Ermordung Carlo Guilianis wird im Vergleich zu den Genua-Filmen aus der »Bibliothek des Widerstands« etwas zu theoretisch verhandelt. Lange wird sich damit aufgehalten, wer geschossen habe, ob Guiliani die auf sich gerichtete Waffe noch wahrnahm. Aussagen von Mutter und Freunden fehlen. Aber gemäß der Intention der Regisseure werden Polizei und Staatsvertreter bloßgestellt und es wird deutlich, wie gut gerüstet »unser Europa« sich gegen sein Volk zu wehren weiß.
Ein wichtiger Film, der viele Jahre zu spät kommt und wie so vieles, was soviel später aufgedeckt wird, eher folgenlos bleiben wird. Der Bewegung als Ganzes bleibt eine einzige Aufgabe: Resignation und Rache verhindern und daraus das Richtige lernen. Was genau, wird hier nicht diskutiert.
»The Summit«, Regie: Franco Fracassi, Massimo Lauria, Italien 2011, 95 min, 14.–17.2