Die Frau mit dem grünen Haar
Es war Gaby, die das erste Mal von ihr erzählte und es war auch Gaby, die sie schließlich einige wenige Male in die Wohnung mitbrachte. Eines Tages stand sie mit ihr zusammen in der Tür. Sie machten den Eindruck eines Liebespaares. Hanna sah es mit Staunen. Gaby hatte erzählt, dass sie sich verliebt hatte, vor einigen Tagen hatte sie das erzählt. Auch, dass es eine Frau sei. Und nun wusste Hanna, dass es nur diese Frau sein konnte. Die Frau war noch ein Mädchen, vielleicht knapp 20 Jahre alt, sie war viel jünger als Gaby, hatte grün gefärbte kurze Punkhaare und trug irgendetwas oben, Pullover, Hemd, dazu schwarze Zimmermannshosen, sie gab sich burschikos, doch ihr Gesicht war weich, die Augen wie kleine schwarze Kohlen. Glanz darin und Lachen.
Hanna war Ende 30 und in einem Zustand, der einfach gesagt, aber nicht leicht erklärbar war. Es war nach ihrer Trennung gewesen und diese Trennung hatte sie viel an ihren Vater denken lassen. Sie dachte an ihn, wie man an ein überstandenes Unglück denkt, was einen in grauer Vorzeit heimgesucht hatte. Der verdiente das nicht, denn er hat sicher in derselben Zeit nicht den Bruchteil eines Gedankens an sie verschwendet. Für ihn war es schon lange klar, dass sie getrennte Leute waren. Sie aber dachte viel an ihn, nämlich in die Richtung dessen, was er ihr angetan hatte und dass dies doch etwas für ihr Leben ganz Entscheidendes gewesen sein musste. Sie fand es zb ungerecht, da sie deshalb nun schon ihren Mann, den Vater ihrer Kinder, verloren hatte. Dabei brachte sie diese beiden Personen in einen unbestimmten Zusammenhang. An Kai, von dem sie sich getrennt hatte, dachte sie kaum noch, seine Abwesenheit, besonders an den Abenden, erlebte sie als Befreiung, als ein Gefühl, einem Gefängnis von Erwartungen entronnen zu sein. Obgleich es so war, dass sie ihn immer geliebt hatte, wenn man das Gefühl, wenn einem ein Mensch wertvoll und liebenswert erscheint und man dessen Eigenschaften über seine eigenen stellt und man Angst davor hat, sein Missfallen zu erregen, und dazu glaubt, alle anderen würden nur wegen ihm zu Besuch kommen, so nennen will. Anders herum war es mit dem Gefühl des Verstehens gewesen, das hatte sie bei ihm nicht gefunden. Sie hatte das bei ihm immer gesucht, aber nicht gefunden. Sie hatte sich ihm leider auch nicht verständlich machen können. Die Ansätze dieser Versuche versiegten in Stottern, gingen unter in Angst und ertranken in Unsicherheit. Das war natürlich ganz ihre eigene Schuld, aber was sie brauchte, fand sie bei ihm nicht. Sie genoss es aber, da sie in ihn einst sehr stark verliebt gewesen war, ihn ständig um sich zu haben, ihn anzusehen, ihn zu beobachten, wenn er mit ihren Kindern spielte. Auf welche feine, zärtlich-lustige, aufrichtig-echte Art er das bewerkstelligte, war beeindruckend. Dass er sie nicht verstand, oder sie sich ihm nicht verständlich machen konnte, dass sie also beide einsam blieben, obgleich sie zusammen waren, das färbte allmählich die Stimmung ein, die wurde zunehmend ungemütlich, vergiftet durch das Gefühl einer in beiden bohrenden Sehnsucht, die immer unerfüllt blieb, und die sie nicht zu einer Lösung bringen konnten.
Darüber entstand Entfremdung, Verzweiflung, Schuldgefühl. Nicht bei ihm, bei ihr. Sie fand, dass sie nicht mehr in der Lage sei, fand, dass sie nicht mehr lieb war, fand sich unzureichend, und das war es schließlich, was sie dazu brachte, die Trennung zumindest zu ersehnen. Als eine Befreiung dachte sie sich die.
Sie sagte sich, dass er dadurch, dass sie nicht mehr mit ihm nah sein konnte, litt und sich mit einer anderen Frau, die sich weniger unverstanden fühlen und ihm mehr geben konnte als sie, wohler fühlen würde. Im Grunde dachte sie fürsorglich, aber er verstand das nicht. Er nahm an ihr alles als eine Verweigerung wahr. Das hatte später und im Nachhinein Unmengen von Kummer und Schuldgefühlen gegenüber ihren Kindern freigesetzt. Am Ende war alles zu einer Eiskugel geworden, die in ihrem Inneren hinabgesunken war.
In dieser Stimmung ungefähr war sie, als Gaby das erste Mal von dem Mädchen erzählte, dass dann zu Besuch bei ihnen gewesen war.
Sie hatte sie in einer Abendschule kennengelernt, sie war Tischlerin und holte nun ihr Abi nach. Ich weiß nicht, sagte Gaby, ich glaube, ich habe mich in sie verliebt. Dabei erschrak Hanna sehr, denn sich in ein Mädchen zu verlieben, das war doch das, was zu ihr gehörte, was sie heimlich wollte, ihr sehnlichster Lebenswunsch, seit Langem erträumt, seit ihrem 12. Lebensjahr ein nie zu Ende gedachter Gedanke, eine nie in Handlung umgesetzte Tat. Welch eine Idee, dies einfach so in die Wirklichkeit umzusetzen. Und sie war irritiert, aber auch erregt, fast eifersüchtig, dass Gaby dies so unbefangen umgesetzt hatte und so einfach von dieser schwierigen Sache sprach. Sie musste direkt über sich selbst lachen und schimpfte sich sehr verklemmt.
Als dann das Mädchen mit den grünen Haaren das erste Mal die Wohnung betrat, da fuhr es in Hanna wie ein Feuerstrahl. Das war also die Frau? Die Frau, die ohne irgendein Problem innerhalb einer Minute die Gaby von Männern weg und dazu gebracht hatte, sich in sie, eine Frau zu verlieben, alle Achtung. Sie sah auf ihre Hände, sie umschlangen die von Gaby. Sie umschlangen sie auf eine so wunderbare Weise, dass es Hanna heiß und kalt den Rücken hinunterlief. Nie hatte Hanna so etwas gesehen, es war ein einziges Begehren, was die Hände des Mädchens mit den grünen Haaren ausdrückten.
Hanna floh und sah nun die Hände innerlich vor sich, sie dachte den absurden Gedanken, dass sie an Stelle von Gaby wäre, und sie spürte die Liebkosungen des grünen Mädchens, als hätte sie ihre eigenen Hände geküsst. Solche Zärtlichkeiten, die hatten ihr gefehlt, solche Zärtlichkeiten, die hätten das Eisenband der Umklammerung um ihren Körper vielleicht gelöst. So ein Mädchen, das könnte vielleicht die Lösung sein, das vermochte sie vielleicht zu trösten in ihrem Kummer oder zu heilen. So ein Mädchen würde sie vielleicht verstehen, so ein Mädchen würde sie vielleicht lieben können. Und sie bekam die Bilder nicht aus dem Kopf und dachte die ganze Nacht an die liebkosenden Bewegungen des Mädchens mit den grünen Haaren.
Einige Tage später erzählte Gaby, dass sie sich von dem Mädchen wieder getrennt hatte. Erschrocken fragte Hanna, warum denn das, die wäre doch so lieb gewesen und sie dachte daran, wie nett dieses Mädchen auch zu Gabys Kind gewesen war. Tja, weißt du, es war so, begann Gaby, sie hat einmal bei mir geschlafen letztens, erinnerst du dich? Hanna erinnerte sich. Sie hatte das Mädchen mit den grünen Haaren am nächsten Morgen auf dem Hochbett gesehen, durch die Glastür. Ein Schemen grün. Verlegen hatte sie da weggeschaut.
Nun ja, erklärte Gaby, Ilona hat eine Lebensmaxime, sie schläft immer nur einmal mit einer Frau, niemals ein zweites Mal. Insofern war klar, dass es damit zu Ende ist.
Was, fragte Anna entgeistert, aber warum das denn, das ist ja furchtbar?
Ja, aber sie kann es nicht anders, sie hat noch nie mehr als ein Mal mit einer Frau geschlafen.
Anna hatte lange über diesen Satz nachgedacht. War das die Lösung? Doch war es ja tragisch. Was war das für ein Leben? Ein Leben, in der Liebe bedingungslos, nur in dem einen Augenblick genossen wird? Eine Liebe, die nicht den Hauch einer Chance hat? Doch sie konnte nicht aufhören, sich damit zu beschäftigen. Sie bekam die Bilder dieser Nacht nicht aus dem Kopf. Nun war es noch verrückter geworden. Nun hatte es nur die eine Nacht gegeben, die das Mädchen mit den grünen Haaren der Gaby geschenkt hatte. Was war es für eine Nacht, die das Mädchen mit dem grünen Haar verschenkte, was war es für eine Nacht, die sich das Mädchen mit dem grünen Haar gönnte? Immer wieder malte sich Hanna diese Nacht aus, fast so, als hätte sie sie selbst mit ihr verbracht. Sie bekam sie einfach nicht mehr aus ihrem Kopf heraus. Sie merkte, dass es ihr gefiel, dass die grüne Frau wieder frei war. Sie merkte, dass sie an ihre Augen, an ihr Gesicht, an ihre Hände dachte. Die Hände, die zunächst die Hände von Gaby umschlungen hatten, und denen sich dann vorsichtig ihr Mund genähert und die Hände mit Küssen überdeckt hatten. Sanfte Küsse, vorsichtig aufgesetzt, einer nach dem anderen. Hanna hatte das alles entzückt von weitem mit angesehen, sie hatte auf der Treppe zur Küche gestanden und die beiden im Garten beobachtet, die einander zugewandt, leise miteinander flüsternd, um die Gartentisch saßen in dieser Sommernacht. Wie sanft sie gewesen waren, wie zärtlich. Zufällig war sie damals noch mal runtergekommen. Da sah sie die Hände des Mädchens. Sie umschlang und liebkoste die Hände von Gaby wie in einem vollendeten Liebesakt.
Sie hatte danach die grüne Frau ab und an getroffen, noch immer lief sie in weiten Handwerkerhosen herum, die Hände tief in den Taschen vergraben, die Haare rasiermesserartig im Männerschnitt, einige Zentimeter vom Kopf steil, als Punkfrisur gestaltet. Sie traf sie auf Veranstaltungen, wo kaum einer den anderen kannte, und wo Hanna sie manchmal von weitem grüßte. Wann immer sie sie traf, dachte sie an die eine Nacht, die diese Frau gewillt war, Frauen, die sich in sie verliebten, zu schenken. Nur eine Nacht. Oh mein Gott, dachte Hanna. Ich würde sie nehmen diese Nacht. Ich würde es eingehen, dieses Risiko, ich würde es machen, wenn sie es so wollte. Eine Nacht ist besser als keine Nacht. Jedoch traute sie sich natürlich nie. Sie hatte keine Ahnung, wie sie sich ihr annähern sollte. Sie hatte noch nie eine Frau verführt, wie sollte sie es anstellen?
Manchmal, wenn sie kurz daran dachte, dann wehte sie der Gedanke an, dass sie es vielleicht schaffen könnte, sie länger als eine Nacht zu begeistern. Dann vergaß sie sie wieder, der Alltag war voller Arbeit. Einmal traf sie sie noch beim Gayhane-Fest in der Oranienstraße und ein anderes Mal beim 1. Maifest. Bei Gayhane hatte sie versucht in ihre Nähe zu gelangen, doch gleichzeitig hatte sie Angst gehabt und gezögert. Das Mädchen hatte von weitem gegrüßt und sie angelächelt, Hanna war verlegen geworden. Ich bin feige, dachte sie, über sich selbst erbost. Aber wie macht man es, wie stellt man es an? Sie wusste es nicht. Es blieb ein Kitzel, wann immer sie sich trafen. Doch Hanna hinderte auch etwas, sie hatte keine Erfahrung, sie war scheu, und das Mädchen mit den grünen Haaren schien selbstbewusst und stark. Das war 1994 gewesen.
Etwa 15 Jahre später traf sie auf einem Fest eine ältere Kollegin wieder. Mit Ihr hatte Hanna zwei Jahre in einer Kleinstadt zusammen in einer Schule gearbeitet. Die Freundin hieß Karla, sie war mit ihrem Mann und ihrer erwachsenen Tochter dort. Bisher hatte Hanna den Mann schon mal kennengelernt, aber die Tochter, die in einer entfernten Stadt wohnte, nie. Sie hatte viel gehört von ihr und wusste, die hatte grade ihr Medizinerexamen geschafft. Und ihre Freundin war mächtig stolz auf sie. Darf ich dir heute endlich mal meine Tochter vorstellen? Und Hanna gab höflich die Hand. Eine schlanke Frau in einem weißen Lodenmantel mit halblangen Haaren trat ihr gegenüber. Ich kenn dich, sagte da die Tochter. Du wohntest einst mit deinen Kindern in der W.-Straße, wo ich mal mit einer Gaby befreundet war. Hanna traf der Schlag. Waaas? Das war das Mädchen mit den grünen Haaren? In nichts war das heute mehr erkennbar. Keine grünen Haare mehr, keine Zimmermannshose, keine Tischlerlehre, kein burschikoses Verhalten, keine glühenden Augen. In nichts glich sie dem damaligen Mädchen mit den grünen Haaren. Waassss???, schrie sie lauter als beabsichtigt, wirklich? Vor ihr stand eine Ärztin, elegantes Outfit, schmales Gesicht, von halblangen Haaren umrahmt. Die Erinnerungen donnerten auf sie ein und machten sie verlegen. Doch sie fühlte sich auch seltsam sicher plötzlich. Inzwischen hatte sie Erfahrungen gemacht, wie man eine Frau verführt, sie war nicht mehr unsicher und scheu. Und sie dachte wieder an die Lebensmaxime, von der ihr damals Gaby, mit der sie lange den Kontakt verloren hatte, erzählt hatte. Wie lebt sie heute, fragte sie sich, denkt sie immer noch so? Neugierig schaute sie sie an.
Ich kann es nicht fassen, dass du wirklich dieses Mädchen bist, das damals mit Gaby in unsere Wohnung kam, sagte Hanna leichthin, scheinbar belustigt. Doch, doch, das bin ich, lachte die andere zurück, und setzte hinzu: Gaby war wirklich eine tolle Frau.
Wenn sie so toll war, dachte Hanna, warum hast du sie verlassen, nachdem du sie einmal im Bett hattest: Was ist das für ein eigenartiges Gesetz? Aber sie schwieg. Noch verwirrt davon, dass dies die Tochter ihrer Kollegin war, aber eigentlich die Person, auf die sie vor hundert Jahren einmal ihre Wünsche gerichtet hatte, die damals noch ängstlich und scheu gewesen waren, während das Mädchen damals schon selbstbewusst und stark war, suchte sie nach leichthin gesprochenen Worten. Was machst du denn jetzt so, fragte Hanna sie. Was man so macht, antwortete die andere. Ich bin Chirurgin, setzte sie nach, das ist anstrengend. Die vielen Dienste, die Operationen, auch ist es schwer, dort als Frau akzeptiert zu sein.
Bist du noch mit Frauen zusammen? Fragte Hanna grade heraus.
Manchmal, antwortete die Tochter.
Dann gingen sie auseinander. Die Kollegin mit Mann und Tochter in die eine Richtung, Hanna in die andere Richtung. Doch bleib sie nach einer kurzen Weile stehen und konnte es nicht fassen. Doch fühlte sie sich trotzdem gut. Gern hätte sie ihr erzählt, dass sie selbst inzwischen mit Frauen zusammen gekommen war und den Genuss einer ersten Nacht nun auch kannte. Doch nie hätte sie daraus ein so traurig-grausames Gesetz gemacht.