Nachtasyl in der Schaubühne
jw/ Feuilleton/20.6.15
Das Bühnenbild von Olaf Altmann ist ein großer Wurf. Eine extrabreite Metallrutsche, die an eine aufgeschnittene U-Bahnröhre erinnert, füllt den Horizont aus. Ihr oberes Ende ist verdeckt, die Schauspieler rutschen sozusagen aus dem Nichts auf die Bühne und kämpfen sich gegen die Schwerkraft zurück nach oben.
Jeder Auftritt ein Absturz, jeder Abgang ein mühseliges Hinaufhangeln, das mehrfach scheitert und jedem Darsteller ein bestimmtes Maß an Schwungkraft abverlangt. Schnell ist man unten, mühsam kommt man von dort wieder weg.
Heutige Abgestürzte
Die Gestalten in Michael Thalheimers Inszenierung von Maxim Gorkis »Nachtasyl« an der Berliner Schaubühne sind heutige Abgestürzte. Ihr Scheitern hat im Konkreten jeweils persönlich-private Gründe. Im Zusammenhang bilden sie eine politische Situation ab, die der zunehmenden Verelendung in einer Gesellschaft, in der es immer nur um eines geht, egal, ob es sich Rationalisierung, Optimierung oder Controlling schimpft: Wie lässt sich der lästige Faktor Mensch im Sinne der Profitmaximierung eliminieren? Auf Kapitalismusdeutsch: Wie kann man noch auf dem Weltmarkt bestehen, mit China mithalten, Verluste minimieren, Gewinne maximieren etc.
In den Seelen der Elenden nur noch Hass
In den Konzernetagen kommen die Abgehängten nur als Zahlenwerte vor. Auf der Schaubühne gibt es den Alkoholiker, der mal Angestellter war, den Fixer, den Frauenunterdrücker und die Schwindsüchtige, den »Fürsten«, der mal reich war – jeweils Prototypen, damals wie heute. Die vielen Demütigungen haben dafür gesorgt, dass in den Seelen dieser Elenden nur noch Hass ist. Ihr Kampf gilt nicht den Verhältnissen, die sie in diese Lage gebracht haben, sondern nur dem nächsten, den sie erreichen können, und der gerade noch ein wenig schwächer ist als sie. Darin haben sie Virtuosität entwickelt. Auf das Verspotten und Quälen der Leidensgenossen verstehen sie sich.
Schwäche Eindimensionalität
Die Stärke der Inszenierung ist ihre Realitätsnähe, die Schwäche ihre Eindimensionalität. Das liegt nicht an den Darstellern, die spielen phantastisch, virtuos, glaubwürdig. Aber die Überzeichnung durch Dramaturgie (Bernd Stegemann) und Regie hat zur Folge, dass diese Elendsfiguren keinerlei Brechung oder Schattierung aufweisen. Am Ende tobt sich ein stumpfer Realismus aus. Ein Schädel wird auf dem Metall zertrümmert. Das Blut spritzt in dicken Tropfen über die Bühne. Weil vorher schon immer mal wieder Schlamm die Röhre hinunterfloss, stehen schließlich alle sehr besudelt da. Als verbrecherische Elemente aus dem Subproletariat, die nichts vermögen, als Widerlichkeiten auszustoßen und gegeneinander tätlich zu werden. Da bleibt kein Funken Hoffnung auf irgendeine Überwindung. Das ist bitter. Aber hat Gorki sein »Nachtasyl« so konzipiert? Ich erinnere mich an Inszenierung mit Mehrfachbrechungen, Witz und Komik. Das ist hier offenbar bewusst nicht angelegt worden.
Entrechtete könnten Rache nehmen
Leider wirkt alles Eindimensionale – nur böse, nur widerlich, nur gut – auf die Dauer ermüdend, und so ist diese Umsetzung nicht eben überzeugend. Als Niederschlag eines resignativen bürgerlichen Bewusstseins, das alle Hoffnung hat fahren lassen und nun erfüllt ist von der grauenhaften Vorstellung, die Entrechteten könnten Rache nehmen, ist sie jedoch ein Zeitzeichen.
Nächste Vorstellungen: 23. bis 25. Juni, jeweils 20 Uhr