Eine Karriere – Wüstenblume – Rezension
Wüstenblume, Kinostart: 29. September 09, von Sherry Hormann
Und dann wirft sie ihren Kopf hoch: »Wüstenblume« zeigt keine Bilder für den männlichen Blick
Überraschung: Kein düsteres Beschneidungsdrama, keine tragische Afrikageschichte, für die man die Menschen hier nicht interessieren könnte, stattdessen die Geschichte eines groß gewachsenen jungen Mädchens in London, dass in einem Fast-Food-Restaurant als Putzfrau arbeitet, nachdem sie sich mit einer Verkäuferin anfreundet, die sie beim Klauen erwischt hat. Sie lernt die Landessprache und geht mit der Freundin in einer Disco tanzen und wenn sie von Männern angesprochen wird, wirkt sie schüchtern. Sie ist braunhäutig und nach einer Weile merkt man, die Schüchternheit verbirgt eine stolze Kraft. Als sie einem berühmten Fotografen auffällt, beginnt eine Karriere als eine „schöne Frau“, die man gut fotografieren kann. Ihr Gesicht ist schön, weil es ausdrucksvoll ist, es ist ausdrucksvoll, weil es Mut und Stolz und Widerständigkeit zeigt. Immer wieder sagt der Fotograf zu ihr: Kopf hoch! Und dann wirft sie ihren Kopf hoch, und die Geste steht sinnbildlich für ihre Würde. Hier wird nicht als schön dargestellt, was sich am besten dem Männergeschmack anbietet, keinerlei Unterwürfigkeitsgesten, die Frau strahlt Mut und Kraft aus und wird deshalb berühmt.
Identifikation mit einem anderen Begriff von Schönheit
Ein Film, der überwiegend in London und New York spielt und sich bestens zur Identifikation westlicher Mädchen mit einem anderen Begriff von Schönheit eignet, überrascht, weil man alles andere erwartet, als einen Identifikationszweck. Aber Tatsache ist: Hier können junge Mädchen lernen, dass Schönheit einem Gefühl für sich selbst und seiner eigenen Würde entspringt, dass Schönheit von innen kommt und keinem Klischee entsprechen muss.Und doch beginnt der Film in Afrika, durch den heißen Wüstensand läuft ein Mädchen tagelang, um den alten Mann nicht heiraten zu müssen, an den man sie verkauft hat. Es sind eindrucksvolle, eher dokumentarisch anmutende Bilder, die nur den Auftakt bilden für das Geheimnis, dass hinter dem jungen Mädchen steckt, wie hinter so vielen ähnlichen, die wir in Bahnhöfen, Flugplätzen, Restaurants sehen, wie sie wortlos unsere Teller abräumen und natürlich nicht immer berühmt werden wie diese.
Das Geheimnis
Nach einer Sexszene der Freundin enthüllt sich das noch größere Geheimnis der jungen Frau, sie hat etwas, was ihr immerwährende Schmerzen bereitet, man hat ihr etwas angetan, sie vertraut sich der Freundin an. Nur ganz kurz wird problematisiert, was doch das Schlimmste von allem sein muss, beschnitten worden zu sein, bei ihr geschah es im Alter von drei Jahren, ihre Erinnerungen sind klar. Noch denkt sie, das geschieht allen Frauen, die Freundin klärt sie auf und bringt sie zu einem Arzt. Das alles wird unspektakulär und kurz genommen, so kurz wie es auch die Protagonistin selbst nur aushalten würde, darüber zu sprechen in solch einer Lage. Die Geschichte geht weiter den Gang ihres Erfolges und ihrer Niederlagen, ihrer Probleme mit dem abgelaufenen Pass, einer Scheinehe, der Ausländerbehörde und ihren ersten Nacktfotos, an denen auch nichts Unterwürfiges, nichts Pornografisches ist, sondern nur Schönheit sich durch Stolz und Kraft ausdrückt. Eine Kunst ist es, das zu inszenieren und in Bilder zu setzen, interessant für jugendliche Mädchen, ganz gleich welcher Couleur ihre Hautfarbe und welches Land ihre Heimat ist, einfach, damit sie einmal andere Bilder sehen, als die üblichen Schemen, denen sie nachstreben, wo sich Frauen Männerblicken lasziv anbieten und dabei Schwäche als normale Haltung kultivieren. Frauen sind stark und das macht sie erotisch, von welcher Feministin könnte dieser Satz sein? Arienne Rich könnte ihn ausgesprochen haben. In diesem Film über ein widerständiges Mädchen können junge Mädchen dazu Bilder finden. Bilder, die sie ermutigen, Bilder, die ihnen Selbstbewusstsein geben.
Aus Ohnmacht wird Engagement
Auf dem Höhepunkt ihrer Karriere, am Ende des Films, beginnt die junge Berühmtheit, die sie nun geworden ist, endlich zu sprechen. Über den wichtigsten Tag ihres Lebens. Nein, nicht der, wo sie „entdeckt“ wurde. Nein, nicht der, wo sie von Zuhause quer durch die Wüste weglief. Nein, es war der Tag, an dem sie drei Jahre alt war und man mit ihr das Schreckliche tat, obgleich sie doch im Schoß ihrer Mutter lag, von dieser festgehalten und versucht zu trösten, wo doch kein Trost je helfen konnte. Aus dem Sprechen wird eine Anklage und aus der Anklage eine Mission und im Abspann spricht sie vor der UN-Behörde vor tausenden Journalisten aus aller Welt. Über die letzte Szene läuft Schrift: Aufgrund dieser Rede und weiterer Aktivitäten der realen Hauptperson wurde in vielen Ländern Beschneidung inzwischen verboten. Die letzten Szenen kurz, unspektakulär und unkitschig gezeichnet. Die Botschaft: Es lohnt, sich zu wehren, es tut weh, es kostet Kraft, aber es macht stark und sogar schön und nie darf ein Mensch aufgeben, schon gar nicht eine Frau, wenn sie um ihre Würde kämpft. Und wenn sie um ihre Würde kämpft, dann kämpft sie damit auch um die Würde aller anderen Frauen, denen dasselbe angetan wurde.
Sehr guter Kommentar. Habe den Film inzwischen 6 mal gesehen, da ich im örtlichen Kino die TDF -Flyer “Kein Schnitt in die Seele” verteile. Die allerletzte Szene, als sie vor der Vollversammlung der UNO spricht, finde ich am beeindruckendsten, und dann die blockhaft hingestellten Sätze über die Zahl der Mädchen, die täglich an ihren Genitalien verstümmelt werden. Übrigens: das letzte Filmbild – sie geht über die verkrustete Erde, und hinter ihr der Schatten, der sie nicht losläßt – ist zufällig (?) dassebe Motiv wie auf unserem TDF – Plakat “Genitalverstümmelung verfolgt ein Leben lang “. Ich erlebe immer wieder tiefe Betroffenheit der BesucherInnen nach Ende des Films, nicht nur bei Leuten fortgeschrittenen Alters, sondern auch bei jungen: Ein älterer Schüler kam heraus, war den Tränen nahe: “Das war ja ein brutaler Film!” Sicher hat er schon Anderes gesehen, was er aber unter “ist ja nur ein Film” abgespeichert oder gleich vergessen hat. Diese Geschichte hat ihn aber tief innerlich berührt.
Herzlichen Dank an Anja Roehl ! Ihre Rezension ist punktgenau und ausgezeichnet und deckt sich mit allen Urteilen, die ich bislang von Besucherinnen hörte. Es gab im Vorhinein höchst merkwürdige Kritiken von sog. “Professionellen”, die recht abwertend waren und die ich besonders nach dem Anschauen des Films überhaupt nicht mehr verstand. Dezent, diskret, voller Spannung in seinen düsteren schmerzhaften Momenten, entspannend, befreiend in seinen “schönen” Momenten. Liya Kedebe ist eine so glückhafte Besetzung, die schrille Sally Harris ebenfalls, die Frauenfreundschaft der beiden gelungen vorgestellt. Dieser Film gehört auf die BestViewerInnen-Liste, wenn es denn so etwas gäbe neben Oscars und anderen Preisen…In meinen zahlreichen Vorträgen zu FGM hörte ich in den letzen 10 Jahren stets, dass die “Wüstenblume” von Waris Dirie Motivation war, sich für das Thema zu interessieren. Gewiss hätte ich mich auch über andere Motive gefreut, doch es war gut so und ich wäre froh, wenn dieser Film ebenso Augen, Ohren, Herzen und Hirne von Millionen Menschen öffnen würde für Gewalt, Unrecht, Leid, das Mädchen und Frauen immer noch und immer wieder und leider auch immer mehr angetan wird auf unserer Welt und sie “anzündet”, dagegen anzugehen, sich einzusetzen, sich stark zu machen, aufrecht zu gehen, den Kopf hoch zu halten…