Verwöhnte Kinder? – Härte und Konsequenz ? Finger weg!

11.02.2010 / junge welt / Wissenschaft & Umwelt / Seite 15

freies fröhliches KindVerwöhnung ist im pädagogischen Alltag ein ungemein populärer Begriff geworden. Er wird auf Kinder angewandt, die »nicht hören« oder zur Unzeit aufs Klo gehen wollen, die mit anderthalb Jahren noch nicht trocken sind (weil ihre Eltern sie nicht an »feste Zeiten gewöhnt« haben); die weinen, wenn sie hinfallen (weil ihre Eltern immer sofort auf sie zustürzen), die viel toben, (weil sie sich »alles erlauben« dürfen), die lügen oder sich nicht beschäftigen können.

Sogar Kinder, die zu Hause vernachlässigt und geschlagen werden, gelten als verwöhnt. Gern wird der Kaugummibegriff gegen Mütter in Anschlag gebracht, die ihre Kinder adäquat trösten, die warmherzig und achtsam sind; etwa indem sie Licht anlassen, wenn die Kleinen nachts Angst haben. Eltern aus dem Osten sprechen oft von »Verwöhnung«, um die »typischen Westeltern« zu diskreditieren.In den vergangenen zehn Jahren habe ich als Fachschuldozentin viele Kindertagesstätten und Kindereinrichtungen in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern besucht und den Eindruck gewonnen, daß oft nur das mucksmäuschenstille, vollkommen angepaßte Kind nicht als verwöhnt bezeichnet wird.

Eltern scheinen hauptverantwortlich für alle Probleme, und zwar nicht, weil sie zu streng oder zwanghaft sind. Meist sind sie angeblich zu nachgiebig, zu besorgt – mit dem Ergebnis, daß ihnen »tyrannische« Kinder »auf der Nase herumtanzen«. Wenn man Gespräche unter Erziehern belauscht, drängt sich der Eindruck auf, sie liebten Kinder zwar, nur müßten diese ohne ihre lästigen Eltern geboren werden, so daß man sie hart genug, mit »festen Strukturen«, konsequent nach Buch großziehen könnte. Heimkinder, denen die elterliche Bindung fehlt, bekommen allerdings Probleme, die eingehend erforscht sind.

In den 80er und 90er Jahren löste man Heime auf, enthospitalisierte Anstalten, schaffte Geschwistergruppen und strebte Eins-zu-Eins-Betreuungen mit »nachholenden Bindungspersonen« an. Bindung ist gut, sagen die Fachleute noch heute. Aber immer öfter warnen sie gleich vor einem Zuviel. Wie sollen Eltern sich da zurechtfinden? Zumal sie für Einschüchterung oder Angstmacherei schnell als »konsequent« gelobt werden. Es heißt dann, sie ließen nicht »alles durchgehen«, hätten gelernt, »Regeln zu setzen«.

Ich konnte kürzlich in einem Kaufhaus beobachten, wie ein dick angezogenes Kleinkind sich in der Karre hin und her warf, von seiner Mutter gerügt wurde, daß es sich gefälligst »benehmen« solle, weinte und als es sich auf weiteres Schimpfen der Mutter immer noch unwohl fühlte, zwei in der Nähe stehende ältere Frauen zu dem Kommentar veranlaßte, dass die heutigen Kinder alle frech und unerzogen seien, die heutigen jungen Frauen sie alle verwöhnen würden. Dem Kind war nur warm gewesen.

Es gibt eine Menge Verwöhnungstheoretiker. Einer der ersten war Albert Wunsch, der im Jahre 2000 für einen Zeit-Artikel und sein Buch »Die Verwöhnungsfalle« begeisterten Zuspruch erntete. Er ist nach eigenen Angaben Sozialpädagoge, Kunst- und Werklehrer, Psychologe und promovierter Erziehungswissenschaftler, lehrt an der Katholischen Hochschule NRW in Köln, leitete früher lange Jahre das katholische Jugendamt in Neuss. Mit seinem Buch löste er eine Lawine aus. Endlich hatte man entdeckt, wer für Verhaltensstörungen der Kinder verantwortlich gemacht gehört: Die 68er mit ihrem lockeren Erziehungsstil der »Verwöhnung«, mit ihrer »Spaßpädagogik«. Wunschs Bücher: »Die Verwöhnungsfalle« und »Abschied von der Spaßpädagogik« (2003) sind inzwischen auch in China zu haben. Sie haben den eifrigen CDU-Vermarkter zum Millionär gemacht.

Man liest immer wieder, daß 30 Prozent aller Kinder als arm gelten. Aber die »verwöhnten« haben zuviele Geschenke, sehen zuviel fern etc. Ihre Eltern gleichen durch materiellen Konsum oder Fernsehen ihren Mangel an Zeit, Lebensfreude oder Hoffnung aus. Die Warenwelt wird vor allem dem Prekariat als letztes Wertesystem vorgekaukelt, dazu redet man den Eltern jeden spontanen Hang zu Zuwendung oder Nachgiebigkeit aus.

Die Angstfreiheit ist in den Gemeinschaften am größten, in denen liebevoll und wertschätzend erzogen wird. Eigenschaften, die in der Verwöhntheorie egoistisch machen. Härte in der Erziehung macht dagegen kriegerisch, erhöht den Angstpegel und damit die Aggressivität in einer Population.

Nicht von ungefähr war die Verwöhntheorie maßgeblich für faschistische Pädagogikratgeber, wie die Soziologin Sigrid Chamberlain in ihren Analysen von »NS-Erziehungsbüchern« herausgearbeitet hat. Müttern wurde damals geraten, das Kind beim Stillen nicht anzusehen, höchstens alle vier Stunden hochzunehmen. Angst und Ekel waren ihm frühzeitig beizubringen. So sollten »Volksgenossen« herangezogen werden

Fazit: Es gibt zuwenig Liebe und Zuwendung. Zuviel gibt es nur unsinnige Waren, dafür aber können die Kinder am allerwenigsten.

Literatur zum Weiterlesen:

Alfred Wunsch: Die Verwöhnungsfalle – für eine Erziehung zu mehr Eigenverantwortlichkeit, 2000

Alfred Wunsch: Abschied von der Spaßpädagogik, 2003

Karl C. Mayer, Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Facharzt für Psychotherapeutische Medizin: Verwöhnung ist in mancher Hinsicht genauso gefährlich wie…

Deutscher Kinderschutzbund e.V., KSA, 9.09: Vergessene Kinder

Sigrid Chamberlain: Adolf Hitler, die Mutter und ihr erstes Kind, über zwei NS-Erziehungsbücher, Gießen, Psychosozialverlag 1997

Johanna Haarer: Die Mutter und ihr erstes Kind, 1936, noch bis 63 neu aufgelegt!

John Bowlby: Bindung – Eine Analyse der Mutter-Kind-Beziehung, Kindler Verlag 1982

www.mehrzeitfuerkinder.de

Bernhard Bueb: Lob der Disziplin, 2006

Micha Brumlik: Vom Missbrauch der Disziplin: Die Antwort der Wissenschaft auf Bernhard Bueb , 2007

2 Antworten auf “Verwöhnte Kinder? – Härte und Konsequenz ? Finger weg!

  1. Auch hierzu möchte ich als ehemaliges ‘verwöhntes Einzelkind’ (gängiges Stereotyp) sagen, dass der Begriff der ‘Verwöhnung’ NIEMALS frei von Subjektivität ist, ja sein kann.
    Der URSPRÜNGLICHE Begriff, der andeuten sollte, dass Menschen, die sich schon als Kind daran ‘gewöhnen’, alles zu bekommen, was sie wollen oder in ihr Blickfeld gerät, wird heutzutage kaum noch in dieser ‘Reinheit’ benutzt.
    Obwohl Einzelkind, bekam ich nicht immer das, was ich wollte – und schon garnicht das, was ich sah. Im Gegenteil – ich hatte eine sehr ärmliche (finanziell gesehen) Kindheit, weil meine Eltern es selber sehr schwer hatten und sich buchstäblich ein zweites Kind nicht LEISTEN konnten. Aber die Tatsache, dass ich nur WENIG Spielzeug und andere ‘Sachen’ hatte, erzog mich – durch Sachzwänge, nicht durch psychologischen Druck! – dazu, Dinge schonend zu behandeln, zu sparen bis zum Exzess, Dinge zu reparieren und wieder zu verwenden etc.
    Von EINEM allerdings bekam ich REICHLICH: Aufmerksamkeit. Das heißt nicht, dass ich von vorn bis hinten bedient wurde (im Gegenteil – ich wurde maßvoll und kindgerecht in die häuslichen Abläufe eingebunden!), sondern meine Eltern HÖRTEN MIR ZU, um mit mir vernünftig sprechen zu können – denn nur so können Eltern fest stellen, was ihr Kind wirklich BRAUCHT und was nur eine momentane ‘Flause’ ist. Meine Eltern haben NIE einen dementsprechenden Kurs besucht – aber sie haben instinktiv alle bedeutsamen Dinge richtig gemacht – und dafür bin ich ihnen dankbar. Ich fühle mich wohl in meiner Haut – auch wenn mich manche Menschen als ‘arrogant’ bezeichnen, weil ich mich nicht weich und geschmeidig in den ‘Main Stream’ einpassen lasse.

  2. “Verwöhnen” = ich nehme dir etwas ab, was du eigentlich selbst tun könntest.
    Kann ein Kind sich selbst umarmen? Kann ein Baby sich selbst trösten?

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