So lonely – Rezension
Noch meine Großmutter hat ihre Kinder nicht aufgeklärt, der Unterleib galt als schmutzig, darüber zu sprechen als Tabu. Wenn ein Mädchen damals ihre Regel bekam, wurden diskret Vorlagen angereicht und ihr zugeflüstert, dass das nun ab jetzt jeden Monat „passiere“ und zum Kinderkriegen gehöre.
Meine Tante war also der Überzeugung an einer unheilbaren Krankheit zu leiden, als sie im Alter von 12 Jahren unstillbar zu bluten begann, versteckte unter Schock stehend ihre Unterhosen im Kleiderschrank, da sie sich auch noch für schmutzig hielt.
Erst in den siebziger Jahren begannen zaghaft Kinderbuchautoren das Thema: Wo kommen die Kinder her? zu bearbeiten und Alternativtheater wie „Rote Grütze – Was heißt hier Liebe?“ inszenierten die ersten Aufklärungsstücke. Im Vordergrund damaliger Stücke stand es, überhaupt erst mal zu zeigen, wie ein menschlicher Körper aussieht und funktioniert, darüber fehlten die rudimentärsten Kenntnisse. Dann wie Kinder geboren und gezeugt werden. Das damals Revolutionäre: Die biologischen Vorgänge wurden am Menschen, nicht an der Löwenzahnblüte erklärt, dazu wurden schöne, freundliche und zärtliche Worte für die bisher nur als schmutzig-dreckig bezeichneten gefunden. Im Laufe der 80/90-iger Jahre hat sich der Kommerz dieses Gebietes angenommen, und Biologismus, Sexismus und Pornografie haben schließlich das Terrain erobert.
Dabei fällt aber nun zunehmend ein Phänomen auf: Die Jugendlichen haben trotz Pornografisierung des medialen Mainstreams, wie eh und je in dieser Phase, ob Antike oder Werther-Zeit, die gleichen Probleme, statt Kondomüberzieheranbahn-Übungen, brauchen sie besser Rat und Hilfestellung in menschlicher Kommunikation. Denn wie verhält man sich im Verliebtheitsstadium? Wie erreicht man, dass man sich nicht andauernd missversteht und daher alles den Bach hinunter geht. Die angebliche Befreiung der Sexualität, das wissen wir längst, war ein Öffnen in die Körper- und Gefühlsvermarktung. Diesen Gefühlen wieder etwas auf die Beine zu helfen, hat sich das Jugendstück „So Lonely“ zur Aufgabe gemacht. So Lonely heißt die jüngste Produktion des Grips-Jugendtheaters
nach dem schwedischen Roman von Per Nilsson in der Dramatisierung von Michael Müller und unter der Regie von Franziska Steiof in Berlin Mitte.
Dabei wird den Gefühlen der eigenen Unzulänglichkeit, den Ängsten und Befürchtungen, den tausend kleinen Sorgen und Problemen, die sich im ersten Liebeswahn ergeben, geradezu mit einer Lupe nachgespürt und so jeder kleine Gedankengang, oft selbstironisch gebrochen, das ist das Besondere, sichtbar gemacht, was absoluten Wiedererkennungswert hat. Jeder hat dies schon erlebt, aber nie war es derart seziert auf der Bühne. Dabei gibt’s weder ein Happy end, noch den tragischen Romeo- und-Julia- Ausgang, sondern es findet sich etwas Dazwischen. Das Mädchen will nur Freundschaft, der Junge kann es nicht glauben, aber, wie einmal das rothaarige Mädchen sagt: It needs two for tango! Jeder von beiden hat das Recht, eine Beziehung anders zu definieren, es gibt kein “Recht” auf Liebe. So traurig das ist, weil man das so gern hätte, den anderen besitzen, so unmöglich ist es, weil es die Liebe sofort töten würde. Denn die Liebe ist ein Kind der Freiheit und das sagt dieses Stück.
Alles beginnt damit, dass ein Junge ein rothaariges Mädchen mit grüner Jacke im Bus trifft. Er kennt sie nicht, aber ist doch wie hypnotisiert. Es folgen Tag für Tag, auf dem Weg zur Schule, kleine, minutiöse Annäherungsversuche, die sich allmählich glücklich in eine Freundschaft auswachsen. Das Ganze wird aber von einem überaus wütenden Jungen in Rückblende erzählt, der dabei von einem Mädchen erstaunt und abwartend kommentiert wird. Eine seltsame Konstruktion, die sich erst im Laufe des Stückes langsam aufklärt, aber dadurch die Spannung hält und nicht ins Triviale einer beliebigen Liebesgeschichte abgleitet. Das Schöne an dieser Aufführung: Die Einmaligkeit der Liebe, die besondere Intensität, als auch deren Flüchtigkeit gelingt dialektisch sichtbar zu machen, nicht nur durch das unglaublich gute und sehr echt wirkende Spiel der Protagonisten, sondern auch durch die Idee, ohne jegliches Möbelstück zu arbeiten, die Zimmer, ein Bus, Wohnungstüren, Betten und Flugzeuge werden nur schnell irgendwo „aufgeklebt“, die beiden Darsteller laufen also immerzu mit Klebebändern herum, mit denen sie durch laut abziehende Geräusche ihre Liebesgefühlsbeschreibungen so untermalen, dass kein Romantizismus aufkommt. Auch das Einengende, das Besitzergreifende der Liebeskrankheit, wird mehrmals mithilfe der Klebebänder symbolisiert. Und doch handelt das Stück nicht von Liebe, so sagt der Protagonist klar und eindeutig, nur von Verliebtheit und einem Volltrottel, woraus Wut, Hass, Eifersucht und Suizidwunsch sich ableiten. Die hochkonzentrierte Stille, die wieder mal im Grips-Theater herrschte, die nicht verordnet werden kann, der danach lostobende Beifall, beides macht deutlich, wie gut hier genau die Zielgruppe getroffen wurde, Jennifer Breitrück und Robert Neumann vom Gripsensemble haben sich hier wieder mal selbst übertroffen, genial die Körpersprache des Robert Neumann, mit der er sämtliche Gefühle wie auf einer Klaviertastatur, in tausenderlei Variationen wie ein Musikstück, zwar dem Publikum, aber nicht seinem Mädchen auszudrücken imstande ist. Man lacht sich kaputt, aber nicht über den Jungen im Stück, sondern über sich selbst, weil man das auch schon genau so erlebt hat. Wunderschön die kurzen, aber lang empfundenen Sequenzen des Verstehens, als Kernstück gelungener Annäherung, die hier choreografisch im Tanz ausgedrückt werden. Keine Minute langweilig! Ein modernes Aufklärungsstück. Aber nicht über Sex wird aufgeklärt, darüber wissen Jugendliche meist schon genug, sondern über den beschwerlichen Weg hin zu einer Frau, in die man verliebt ist. Wieso ist da dann plötzlich so viel Angst? Wie spricht man mit ihr, wie offenbart man sich, was verschweigt man, wieviel verbirgt man, und wie schwachsinnig ist das, wie idiotisch stellt man sich an? Wie entwickelt man solch eine Beziehung, ohne als vollständiger Trottel dazustehn und sich alles kaputt zu machen? All das wird hier in seiner vielschichtigen Problematik witzig und überaus selbstironisch dargestellt. Dabei werden wie immer keine Lösungen dargeboten, sondern Problemfelder aufgemacht. Aus diesen dann später eigene Lösungen zu entwickeln, bleibt Aufgabe der Zuschauerenden, wenn sie zuhause sind. Lohnenswert! Nicht nur für zur Zeit gerade Verliebte, auch für solche, bei denen es schon etwas länger her ist, oder die glauben, dass sie sowas nicht mehr erleben werden. Das stimmt natürlich nicht, als Volltrottel kann man sich immer wieder erweisen. Hat auch was Gutes, das lernt man im Grips.