Stimmen im Kopf – Theaterrezension
jw/Feuilleton/23.3.13
Karin Coper und Götz Strauch sind langjährige Besucher der Neuköllner Oper. Auf ihre Initiative hin entstand in Kooperation mit der Berliner Universität der Künste eine Musicalproduktion, die dem Thema Psychiatrie gewidmet ist.
Für das Stück »Stimmen im Kopf« (Musik: Wolfgang Böhmer, Text und Regie: Peter Lund) hat der dritte Jahrgang des UDK-Studiengangs Musical bei Patienten, Pflegern und Ärzten im Krankenhaus recherchiert und kam dabei zu Erkenntnissen wie: »Eine psychische Krankheit ist immer ein Moment der Ehrlichkeit« oder »Krankheit eine Chance, Dinge neu und anders zu sehen«, was laut Programmheft auch für die Studenten gegolten habe, die auf einmal begannen. »viele Dinge anders« zu begreifen.
Zuschreibungen und Vorurteile aufgebrochen
Frei nach dem brasilianischen Theatertheoretiker Augusto Boal haben die Studenten im künstlerischen Produktionsprozeß herrschende Zuschreibungen und Vorurteile aufgebrochen. Ihre Art der Umsetzung zeigt, daß der Rahmen einer bloß äußerlichen Gestaltung der Figuren verlassen wurde, um ebenso einfühlsam wie emanzipatorisch auf das Thema zu schauen. Stichworte: Psychiatriekritik, Antipsychiatrie, wie lebt es sich auf einer “Geschlossenen”, wie fühlt man sich, wenn eine Richterin bestimmt, ob man wieder allein leben kann oder eben nicht.
Das Stück handelt von Interaktionen zwischen den Patienten, da geht’s um Verstehen, Zusammenhalten, etwas füreinander tun, sich etwas versprechen. Dünnhäutigkeit und Empfindsamkeit sind die Merkmale, die hier herausgestellt werden. Deutlich wird, dass man immer auch psychisch krank gemacht wird.
Das Stück beginnt mit der Einweisung einer überängstlichen, fast katatonen Frau, die einen wilden »eingebildeten Freund« neben sich hat, der in allen Belangen ihrem realen Verlobten widerspricht. Denn das »Nein«-Sagen hat sie nie gelernt, das besorgt er jetzt für sie, nur ist er eben nur eine Stimme in ihrem Kopf und die wird vom eigenen Unbewussten gesteuert und kann mal lieb, mal böse sein, mal Mut machend, mal beschuldigend.
Beeindruckend echt: Marion Wulf
Im weiteren Verlauf werden sechs weitere Menschen mit ihren irrealen wie realen Problemen vorgestellt. Dabei gelingt es den Spielern enorm gut das Wesentliche der Symptome herauszuarbeiten. Sie lernen gemeinsam, den richterlich und/oder medizinisch angeordneten Zwangsmaßnahmen nicht mehr nur ohnmächtig ausgeliefert zu sein. Beeindruckend echt ist dabei Marion Wulf als Punkmädchen mit dem selbstgewählten Namen »Herbert«, die stärkste Widerstandskraft materialisieren kann, verbunden mit äußerster Verletzlichkeit bis zum Suizid.
Songs aus Modern Jazz und Tango
Die Dramaturgie entbehrt nicht kleinerer Redundanzen am Ende des ersten Teils, die Choreographie ist angenehm leicht gehalten. Aus Modern Jazz und Tango werden Chansons entwickelt, die von den verdichteten Psychiatrieerfahrungen echter Patienten künden und sehr überzeugend gesungen werden. Psychiatriekritik ist immer auch Hierarchiekritik, das wird auch sehr gut herausgestellt.
Überaus echt, wunderbar gespielt, gut getroffene Situationen und Charaktere, schöne Stimmen, wild, widerständig, Mut machend, Karten vorbestellen, reingehen!