Der Sturz des Antichrist – Nah am Volk in Jogginghosen und Military-Jacken – Rezension

in jw, 9.2.08, von Anja Röhl

Sturz des AntichristEs gibt Nischen für linke Kunst im hohen Norden Mecklenburgs. Vielleicht ist das Publikum abgezählt, aber es kommt. Gewerbetreibende und Lehrer, Punks und Gymnasiasten treffen sich regelmäßg in den Theatern Greifswald, Puttbus und Stralsund. Hier gibt es keinen Abklatsch herrschender Großstadttrends. Die Stücke sind nah an den Problemen der Bevölkerung, erfrischend unaufgeblasen, profihaft gespielt, ernst und schön. Oder lustig, aber nie albern oder dekadent. Am Samstag hatte in Greifswald eine Oper aus dem Jahr 1935 Premiere: »Der Sturz des Antichrist«. Die dramatische Skizze hat Albert Steffen 1928 angefertigt. Die Musik stammt von Viktor Ullmann. Es handelt sich erst um die zweite Aufführung nach 1995. Stücke wie dieses seien nötig, hieß es in Greifswald vorab, um der braunen Gesinnung, die neuerdings in Landesparlamente einziehe, etwas entgegenzusetzen.

Keine blutenden Schweine

Gerade das engagierte und sozialkritische Theater zieht im Nordosten die Menschen an, keine blutenden Schweine, kein inhaltsleeres Geschwafel, die sonst die Bühnen beherrschen. Kein Wunder: Wenn die Theaterbesucher sich in Greifswald auf den Weg in die historische Altstadt machen, kommen sie durch Vorstadtbetonburgen, passieren leerstehende Plattenbauschulen, in denen Möbelreste verrotten. Auf den Schulhöfen zerhauen Jugendliche nachts ihre Flaschen. Kindergartenflachbauten sind halb Ruine, halb umfunktioniert zur Videoausleihe. Die Fenster fünfstöckiger Bauten sind komplett ausgeschlagen. Auf den Wegen sind Pflastersteine herausgebrochen. Es gibt karge Grünstreifen, Parkplätze. Tote Einkaufstempel sind die einzigen Kommunikationszentren weit und breit. Die Menschen, die einem hier begegnen, tragen graue Jogginghosen und Jacken im Military-Look. Selbst die Dreijährigen laufen so herum. Die Kinder sind blaß und laut. Sie heißen Kevin und Justin. Ihre Eltern sehen aus wie 40, sind aber 20, ihre Kinder schon bis zu sechs Jahre alt. Der Ton zwischen den Erwachsenen ist rauh, in Hinwendung zu den Kleinsten wird er grauenhaft schrill. Verwahrlosung und Mißhandlungen sind offensichtlich, trotzdem wird nach mehr Strenge und Härte geschrien. ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung) ist hier die Modediagnose in der Kinder- und Jugendarbeit. Dafür gibt’s Medikamente und Therapien.

Wieso konnte dieses Land so kampflos besetzt werden?

Während die Jungen sich mit Alkohol und Drogen trösten, gehen die älteren Alteingesessenen mitunter ins Theater, vielleicht suchen sie dort Antworten auf ihre Fragen: Wie konnte es passieren, daß diese Gesellschaft einmal so abstürzt? Wie konnten sich die Menschen so verändern, wieso konnte dieses Land so kampflos besetzt und dem westlichen Räuberkapitalismus unterworfen werden? Auf großen Beifall stieß bei der Premiere des antidiktatorischen Dramas am Samstag die extreme Musik des Schönberg-Schülers Ullmann (1944 im KZ Auschwitz-Birkenau ermordet). Thema des Stückes ist der Sturz eines Usurpators. Wissenschaftler und Priester lassen sich neben den Tyrann aufs Podium ziehen, stellen ihre Autorität in den Dienst der Macht. Der eine soll aus Steinen Brot machen, der andere in den Weltraum fliegen, die Sonnenenergie nutzbar machen. Einzig der Künstler widersteht trotz Folter und erreicht mit der Wahrhaftigkeit seiner Worte am Ende die Automatenmenschen, die alles mit sich machen lassen. Die Verschmelzung der wildbrüllenden Musik mit dem Inhalt gelingt. Nur einmal singt der Chor kurz sehr zart. In den übrigen Szenen ist er das graue Volk, das mit blutbesudelten Mänteln einer Arbeit nachgeht, die keinen Sinn hat. Die Mienen sind kalt und abweisend, nicht einmal nach innen gewendet. Als der Künstler sie erreicht, tauen die Gesichter auf, werden weicher. Die Menschen bewegen sich aufeinander zu, berühren einander, als entdeckten sie, daß sie doch eigentlich Menschen sind, zur Warmherzigkeit fähig und zur Liebe. Eine sehr gelungene Szene, man wünscht sich diese Wendung auch für die Wirklichkeit.

In düsterer Voraussicht: »Der Sturz des Antichrist« wurde 1935 als »Bühnenweihfestspiel« komponiert

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