Mestlin – Erzählsalon DDR – Fragt doch die Leute
jw / feuilleton/ 10.9.14
Das kleine mecklenburgische Dorf Mestlin ist deutlich zweigeteilt. Es gibt den historischen Kern um eine Kirche aus Feld- und Backsteinen (13./14. Jahrhundert). Südwestlich davon wurde in den 1950er Jahren ein sozialistisches Musterdorf gebaut. An einem zentralen Platz wurden Schule, Poliklinik, zweigeschossige Wohnhäuser und ein Kulturhaus errichtet. Letzteres als monumentaler Gegenentwurf zum Gotteshaus. Zeitweise kamen mehr als 50000 Besucher pro Jahr über die Freitreppe in den neoklassizistischen Bau, der mit seinen zwölf Fensterachsen auch baufällig noch Eindruck macht. Zur Zeit beherbergt er die Fotoausstellung »Was ist die DDR für dich?« . Im Rahmenprogramm wird am kommenden Sonntag der dritte »Erzählsalon« zum Thema veranstaltet. »Wer miterzählen möchte, ist herzlich eingeladen«, läßt Gastgeberin Katrin Rohnstock mitteilen.
In der Erzählwerkstatt wird niemand kommentiert, erklärt Rohnstock zu Beginn des “Erzählsalons” am vorigen Mal, 10. August 2014, nur so könnten die Erinnerungen, die man bewahren wolle, ungehindert fließen. Die Frage, was die DDR den Menschen heute bedeute, ist in den umliegenden Dörfern und Städtchen aufwendig plakatiert worden. So fanden viele Interessierte den Weg über die zum Teil eingerüstete Treppe in den Saal im Obergeschoß des Kulturhauses. So locker die Runde bei Kaffee und Kuchen beginnt, bald ist sie von Traurigkeit erfüllt. Es geht um Flüchtlingselend, um Waisenkinder … Die Erzählenden waren in ihren frühen Lebensjahren durchweg nicht privilegiert, sondern gehörten zu den Ärmsten.
Der DDR etwas verdanken: Berufsausbildung, Abitur, Studium
Bis zum Zweiten Weltkrieg herrschte in Mestlin der Gutsherr. Strom gab es nur in seinem Haus. Nach der Befreiung vom Hitlerfaschismus kamen verhältnismäßig viele Flüchtlingskinder. Einige finden sich nun hier im hohen Alter zusammen und erzählen, was sie der DDR alles zu verdanken hatten: Heim und Auskommen, Berufsausbildung, Abitur, Studium. Sie wurden Lehrer oder Verwaltungsangestellte. Ohne die Hilfe des sozialistischen Staates hätten sie auf solch ein sinnerfülltes Arbeitsleben kaum hoffen können, so lautet die einhellige Überzeugung. Nach 1989 war der gesellschaftliche Abstieg der Normalfall. Die Lebenswege führten ins Abseits, endeten in Sackgassen.
Heute haben wir die Vorschriften der Werbung
Auch jüngere Stimmen werden laut. Eine Frau hatte in der »Wende«-Zeit gerade ihre Ausbildung abgeschlossen. Die DDR sei ihre Kindheit gewesen, mit Reiten für 50 Pfennig, Zeichenzirkel, Theatergruppe, vielen Büchern. Sie habe sich dann umorientieren und, wie mit einem Makel behaftet, immer durchbeißen müssen. Das Fremde sei ihr fremd geblieben, sagt sei, obwohl die Freiheit ja heute größer sein solle, nichts mehr vorgeschrieben werde. Stimmt das wirklich? fragt ein anderer, heute haben wir die Vorschriften der Werbung.
Ein Schwimmbecken mit Baumaterialien vollgeschüttet
Jeder sei heutzutage auf sich allein gestellt, meint eine Frau, die ihre Kinder mittlerweile im Westen großzieht. Im Osten, wo sie aufgewachsen ist, verbringt sie ihre Ferien. Kritik an der Obrigkeit zu üben, habe sie erst lernen müssen, aber Angst habe sie damals nicht gehabt. Heute sei das oft der Fall. Eine ehemalige Kindergärtnerin erinnert sich, dass sofort nach der Wende ein teurer Umbau ihrer Kita veranlaßt worden sei. Ein gerade von Eltern hergerichtetes Schwimmbecken sei mit Baumaterialien zugeschüttet worden, die heute noch darin lägen. Alles sei schlechtgemacht worden, die DDR-Erzieher sollen nichts als Verbrecher großgezogen haben, sagt sie, und bricht in Tränen aus.
Mehrmals der Satz: Die DDR war mein Leben
Die Erzählungen ähneln einander, sind aber doch verschieden. Kinder seien hoch geschätzt worden, wird gesagt, »Klar, zum Rekrutieren«, entgegnet einer, will seine Geschichte aber nicht erzählen. Rohnstock ermutigt ihn. Er muss nicht. Es folgen Beispiele, wie billig alles war. Mehrmals fällt der Satz: »Die DDR war mein Leben«. Es geht um die Geborgenheit durch Institutionen, die große Bedeutung von Kindern. Wieviel Zeit man für sie hatte! Wenn eines krank wurde, bekamen die Eltern unbegrenzt frei – heute sind es nur zehn Tage im Jahr.
Keine Selbstbestimmung den DDR-Bürgern nach der Wende gelassen
Es geht um den Stolz von Frauen in »Männerberufen« , aber auch darum, dass man »ausgespitzelt« oder auf der Straße kontrolliert wurde – vor allem in Berlin. Rohnstock lässt alles so stehen. Von Manipulation kann keine Rede sein. Eine Frau aus dem Westen schämt sich dafür, dass der Osten nach 1989 wie von einem feindlichen Staat besetzt gewirkt habe, gar keine Selbstbestimmung habe man den Bürgern gelassen.
Dass ich mir etwas erarbeitet hatte
»Jemandem erzählen, was ich früher gemacht habe, dass es einen Wert hatte, dass ich mal jemand war, dass ich eine Geschichte hatte, dass ich Verdienste hatte, dass ich mir etwas erarbeitet hatte …«, heißt es in Hans Falladas Roman »Kleiner Mann – was nun«. Solche Erinnerungen an die DDR sind für die Bewahrung der Geschichte unerläßlich. Und sie fließen wohl kaum irgendwo so ungehindert wie in diesem Kulturhaus in Mestlin, das eine Bürgerinitiative zwar erst zum kleinen Teil saniert, aber schon mit viel Leben erfüllt hat.