Lornas Schweigen Rezension
Die Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne hatte ich mir immer ganz jung vorgestellt, wahrscheinlich weil ihre Filme so modern, so besonders, so sozialkritisch und so sehr der unmittelbaren Neuzeit verhaftet, ihre Protagonisten ausnahmslos ganz junge Menschen, ihre Probleme immer die Probleme der heutigen Jugend, ob in Arbeitslosigkeit, in Elendsvierteln, in Ghettos sind, dass man sich schwerlich vorstellen kann, dass es sich bei den Filmemachern um zwei grauhaarige Männer handelt, die der 68-er Generation nahe stehen.
Der innere Blick
Das Besondere an ihren Filmen ist nicht nur die Handkamera, ähnlich wie bei den dogma-Filmen, das ständige Mitgehen mit allen Bewegungen der Personen, das ununterbrochene Hantieren mit Alltagsgegenständen wie Handys, Spiegeln, jämmerlichen und ärmlichen Wohnungseinrichtungen in Detailaufnahmen, Beobachten und Mitgehen bei Handlungen wie An- und Ausziehen, Hin- und Herlaufen, ohne jeglichen voyeuristischen Blick, nein, das Besondere ist ihr innerer Blick auf die Personen, die immer zu ganz eigenen Individuen werden, so dass man auch das Phänomen erlebt, Schauspieler des vorigen Films wirklich nicht wieder zu erkennen. Dann ist die Geschichte nie vorhersehbar, darin besteht ihr wirkliches Können, Rätselhaftes enthüllt sich langsam und allmählich, während die Kamera doch in ungeheurer Geschwindigkeit die Hektik und die Gehetztheit der Personen, ihre Schnelligkeit in allen Tätigkeiten als Methapher ihrer Ungeborgenheit aufzeigt. Ebenso wie die Gesichter, in denen sich dies alles widerspiegelt.
Erschütternd und aufwühlend
Das Gesicht der Schauspielerin Arta Dobroshi aus dem Kosovo ist „eine Offenbarung“ (La Tribune), ernst in tausenderlei Varianten, die ihre Gedanken widerzuspiegeln scheinen wie in einem Buch, erhellt es sich nur in zwei kurzen Einstellungen zu einem Lächeln. Das wirkt erschütternd und aufwühlend zugleich, für einen kurzen Moment bricht die Schale, die sie um sich herum gebaut hat, um all das, was ihr passiert ertragen zu können. In diesem Moment wird mit einem Schlag der Mensch in ihr in seiner innersten Verletzlichkeit sichtbar und unwillkürlich fürchtet man um sie. Und dabei ist am Anfang des Films das Weitere in keinem Fall abzusehen. Das macht den Film spannend ohne das Genre zu wechseln und ein Krimi zu werden. Es stimmt, der Film nimmt uns von Anfang bis Ende in einem Sog mit.
In einem Strudel von Missbrauch
Eine Albanerin lebt mit einem Fixer zusammen, der in seiner Wohnung zu Hause auf Entzug geht. Scheinbar leben sie als WG-Mitglieder, sind aber kein Pärchen. Er fleht sie an, scheint an ihr zu kleben, sie hasst ihn irgendwie und wirft ihn aus dem Schlafzimmer. Vorher war sie Geld in einer Bank einzahlen und hat danach ein Auslandsgespräch in einer Kabine eines Internetschuppens geführt und mit einem, mit dem sie fremdländisch sprach, gelacht. Das war die erste Lachszene, da sah man die Grübchen in den Wangen, eine rührende Hilflosigkeit und irgendeine Liebe, vielleicht ein Kind, nein, dazu fehlte das Mütterliche, eine Mutter, dazu fehlte auch irgendetwas, ein Mann also, ein ferner Geliebter. Von da ab spult sich der Faden einer merkwürdigen, sich steigernden Geschichte ab, in deren Verlauf die Hauptperson sich in einem Strudel von Missbrauch, Schuld und Hoffnung bewegt und schließlich vollständig verwandelt und wo wieder ein Kind, diesmal ein ungeborenes, zum Symbolträger wird. Ähnlich wie schon beim Film Rosetta lebt man schließlich mit dieser Frau und diesem Gesicht, als würde es die engste vertrauteste Person sein, die einem in den letzten 24 Stunden begegnet ist.
Etwas, was das Leben verändern kann
Liegt es an den vielen Alltagshandlungen, die im Film immer wieder in den Mittelpunkt der Kameraführung geraten? Wie erlangt der Film seine ungeheure Authentizität? Leitmotivisch kommt das Geld in dem Film vor, immer wieder wird es hervorgeholt, gezählt, weggesteckt, in verknitterten Umschlägen herumgetragen, hinter einer Mauer versteckt, weggeworfen, hingehalten, hinter einen Aschenbecher geklemmt, wie im echten Leben auch, „Geld reguliert einen großen Teil unserer Beziehungen“, sagt Jean –Pierre Dardenne im Interview des Begleitheftes, für die Personen des Films wird es „zu etwas, mit dem man sein Leben verändern kann…, wie übrigens für ziemlich jeden von uns heute und seit langer Zeit, man kann sein Leben nur mit Hilfe des Geldes verändern. Geld wird hier zum Symbol für die Hoffnung auf den goldenen Strohhalm Glück. Das Glück ist eine Snackbar in irgendeiner heruntergekommenen Gasse in Lüttich. Und der Besuch in dieser Snackbar, als sie noch Baustelle ist, ist die zweite Szene, wo das Lächeln auftaucht. Und da, in dem heruntergerissenen Lokal, was nichts ist als eine schon ewig unvermietete dunkle Bude, mit zugeklebten Fenstern zwischen Müll und Dreck, da steigt Lorna die Treppe hoch, in der Hand das Telefon und schildert ihrem Geliebten ihre Pläne, Hoffnungen, Sehnsüchte und Wünsche, die sich alle hier in dieser Bruchbude realisieren sollen und die man für einen kleinen Moment auch schon vor sich sieht. Doch mit dem zweiten Lachen bricht ihre Mauer gefährlich ein und an den Rändern der Gesellschaft tut sich ein Abgrund auf.
In den Abgrund gestürzt?
Warum heißt der Film „Lornas Schweigen“ fragt man sich, sie schweigt doch nie. Doch manchen im Film schweigt sie zu wenig, redet zu viel, gehört nicht mehr dazu, wird ausgestoßen. Als sie sich am Ende in dem kleinen Holzhaus verbarrikadiert, sich niederlegt, die Hand auf den Bauch und die Beethovenmusik ertönt, in dieser längsten Einstellung des ganzen Films, da bleibt jeder mit seinen eigenen Gedanken zurück, wie es wohl weitergehen könnte. Wird sie im Wahn versinken? Wird sie ermordet werden, damit sie nicht Zeugnis ablegen kann? Welchen Ausweg gibt es? Gewandelt hat sie sich trotzdem und zu sich selbst ist sie gekommen, wenn sie auch in den Abgrund gestürzt ist.