Das Drama der selbsternannten Gerechten – aufBruch – Gefängnistheater
Eine Gruppe russischer Sozialrevolutionäre will im Jahre 1905 den Großfürsten töten. Sie glauben, dass sich das Volk erhebt, wenn die Repräsentanten des Zarenreiches getötet werden. Der junge Poet Kaljajew soll die Bombe werfen, doch er zögert, als er Kinder in der Kutsche des Großfürsten sieht. Das Attentat scheitert.
Das aufBruch – Gefängnistheater hat dieses Stück ( Die Gerechten von Albert Camus) jetzt in der Justizvollzugsanstalt Plötzensee am Friedrich-Olbricht-Damm inszeniert. Schon der Hinweg ist bedrückend: Mauern rechts und links der Straße. Daneben Altbauten des königlich-preußischen Strafgefängnisses Plötzensee, in dem viele NS-Widerständler hingerichtet wurden. Die hohen Betonmauern mit dem dreifachen Natodraht oben drauf stammen aus den 80er Jahren unserer Zeit, wo damals ein Frauengefängnis allein für weibliche RAF-Mitglieder errichtet wurde. Heute ist hier die JVA Plötzensee, ein reines Männergefängnis.
Das Drama „Die Gerechten“, wurde von Albert Camus in einer Zeit verfasst, wo er seine Eindrücke aus dem bewaffneten Widerstand gegen die Nazi-Besetzung in Frankreich verarbeiten musste: Was macht es mit den Menschen, die Frieden und Gerechtigkeit wollen und sich plötzlich mit Bomben in den Händen wiederfinden?
Camus greift dazu aber eine Episode aus der Zeit der russischen Sozialrevolutionäre auf, so dass das Stück gleichzeitig historisch und gegenwartsbezogen verstanden werden kann. Den russischen „Sozialrevolutionären“ hat man in ihrer heute gebräuchlichen Benennung noch im Namen ihr Ziel einer sozialen Umwälzung gelassen, das ist wertvoll und heute oft nicht üblich. Viele Menschen, die ebenfalls Sozialrevolutionäre sind, werden heute allgemein nur „Terroristen“ genannt.
Das Stück „Die Gerechten“ ist ein beliebter Stoff, weil er besondere Fragen der menschlichen Moral behandelt: Wie soll Gerchtigkeit durchgesetzt werden gegen eine Diktatur?
Zu Beginn trifft eine Gruppe von Attentätern sich in einer Beobachterwohnung, um ein Attentat auf einen Fürsten vorzubereiten. Der Attentäter Janek, ein mit seinem Vater in Ungnade lebender Intellektueller trifft auf den skeptisch-proletarischen Stepan, der ihn für unfähig hält, das Attentat zu vollziehen. Streit, Misstrauen, Gebrüll, dann wieder Beruhigung. Jedoch danach „versagt“ Janek, er konnte die Bombe nicht werfen. Begründung: „Da saß ein Kind drin“. Stepan, sein Genosse, ist wütend, er verweist auf die 200.000 russischen Kinder, die den Hungerstod erleiden, weil es den Großfürsten gibt. Die Diskussion wird grundsätzlich. Einige Zeit später wirft Janek die Bombe doch noch, verschont aber die Fürstin, samt ihren Kindern. Das wird benutzt, die Attentäter zu spalten. Warum haben sie das Leben der Kinder gerettet? Haben sie also Skrupel, glauben sie nicht an den reinigenden Faktor Gewalt? Nein, das tun die Sozialrevolutionäre nicht. Sie hassen Gewalt, nutzen sie nur als Gegenwehr, weil sie verzweifelt über die zaristische Gewalt sind. Doch einer nicht, Stepan, hier sehr intensiv gespielt, er liebt und verehrt die Gewalt als Rache und als Reinigung, sie allein, so schwärmt er, wird durch eine Katharsis in der Bevölkerung etwas neues ermöglichen. Doch das stimmt nicht. Alle Revolutionäre scheitern. Ihr Opfer war umsonst, Attentate ändern nichts. So die Handlung und Botschaft.
Der moralphilosophisch-politischer Debattenpunkt und viele Fragen bleiben: Wenn sozialer Protest gegen Unterdrückung mit Gewalt gegen Menschen und noch schlimmerer Unterdrückung beantwortet wird, was dann? Alles gefallen lassen? Und wenn friedlicher Protest gegen Sachen mit Gewalt gegen Menschen beantwortet wird, was dann? Ab wann, oder wann überhaupt, ist Gewalt gegen Menschen legitim? Wenn sie Unterdrücker sind? Wenn sie selbst Gewalt gegen Menschen ausgeübt haben? Auge um Auge? Die wenigsten Unterdrücker machen sich die Hände schmutzig, dafür haben sie Gesetze, Anweisungen, Leute. Also ist Gewalt auch gegen diese erlaubt? Oder nicht? Und ihre Kinder werden in ihre Fußtapfen treten, Gewalt gegen sie erlaubt? Nein? Also: Schwierig!
Auf all diese Fragen werden in dem Stück keine einfachen Antworten gegeben. Das regt zum Denken an. Und dieses Denken wird mit den Gefangenen zusammen erarbeitet und erlebt. Das ist der sozialtherapeutische Aspekt dieses Stückes. Camus hat sehr früh die Gefahren erneuter gewalttätiger Unterdrückung in revolutionären Prozessen und nachrevolutionären Gesellschaften gesehen und in seinen Texten und Stücken verarbeitet. Sicher auch als Selbstherapie.
Eingearbeitet in diese Aufführung sind weitere Texte: Brecht, Bakunin, Peter Weiss, Hölderlin, ein Liedtext von Exodus von DJ Stalingrad. Dazu Lieder von Weill, Bernd Meinunger, und ein altes Partisanenlied aus Frankreich. Filmszenen von Eisenstein und alte Wochenschaubilder komplettieren die Aufführung, zeigen die Widersprüche auf, in dessen Feld sich die damaligen Handlungsträger bewegten.
Die Gefangenen, die das Stück auf die Bühne bringen, haben sieben Wochen geprobt, jeweils nach ihrer Arbeit, von 16 bis 20 Uhr. Unbezahlt, freiwillig. Ihre Leistung ist überragend. Ich sah dasselbe Stück seinerzeit im Staatstheater Oldenburg. Es war auch gut, aber die Spieler dort waren nicht ganz so überzeugend. Ihre Wut hatte etwas Fremdes, ihnen aufgesetztes, ihr Enthusiasmus war gegen dieses blutleer. Hier scheint alles echt.
Im anschließenden Gespräch sagt einer der Spieler: Wir haben alles unserem Regisseur zu verdanken, er allein holt das alles aus uns heraus. Und der den wütenden Stepan spielt, sagt: Ich bin in Wahrheit ganz anders, glaubt man nicht, oder? Nein, glaubt man nicht. Beziehungsweise doch, klar. Aber er hat wunderbar überzeugend gespielt, die ganze Tragik des Themas in seine Rolle gelegt.
Das Thema scheint wieder aktuell. Von Klima-RAF wird schon gesprochen, wo Aktivisten sich hauptsächlich nur selbst in Gefahr begeben. So war es auch seinerzeit 1968: zunächst war der Protest nur von Verweigerung bestimmt: Sitzstreiks, Sitt-Ins, Seminarboykotts. Als Pudding flog, hieß es: „Schmeißt sie über die Mauer!“, und: „Hängt sie auf!“. Später erst kam die RAF. Da waren vorher friedliche Demonstranten erschossen worden, da hatte man 2000 Menschen eingeknastet, da kannte der Staat keine Gnade. Da waren überall noch alte Nazis an den Schalthebeln, die in jedem Satz giftige Mordlust ausdünsteten. Der Satz: „Euch hat man vergessen zu vergasen“, der wurde einem hinterhergerufen, wenn man die Haare offen oder zu lang trug. Auf Dutschke, der keiner Fliege was zuleide getan hatte, wurden Hetzjagden veranstaltet. Das Stück „Die Gerechten“ passt sehr gut zu einem Gefängnis, es muss eigentlich immer mit Gefangenen gespielt werden.
Mit Frank, Lauan A., Maximilian Sonnenberg, Mohammad Hassan, Nehad Fandi, Sadam, Steffen, Steven Mädel.
Regie: Peter Atanassow
Bühne: Holger Syrbe
Kostüme: Haemin Jung
Dramaturgie: Franziska Kuhn, Daniel Dumont
Video: Pascal Rehnol
Musikalische Einstudierung: Vsevolod Silkin
Produktionsleitung: Sibylle Arndt
Grafik: Dirk Trageser
Regieassistenz: Caroline Zintz
Erst da kam die RAF, und es war nur eine kleine Gruppe, im Verhältnis zur ganzen damaligen Bewegung. Waren die Vorbilder der RAF die Sozialrevolutionäre Russlands? Ihr Scheitern war zumindest ähnlich.
Mit Frank, Lauan A., Maximilian Sonnenberg, Mohammad Hassan, Nehad Fandi, Sadam, Steffen, Steven Mädel.
Regie: Peter Atanassow
Bühne: Holger Syrbe
Kostüme: Haemin Jung
Dramaturgie: Franziska Kuhn, Daniel Dumont
Video: Pascal Rehnol
Musikalische Einstudierung: Vsevolod Silkin
Produktionsleitung: Sibylle Arndt
Grafik: Dirk Trageser
Regieassistenz: Caroline Zintz
Argumente unserer Sozialrevolutionäre, aus den Jahren 1970, aufwärts gewesen? Die russischen verwiesen darauf, dass trotz des Scheiterns der Narodniki im vorrevolutionären Russland, der moralische Vorbildcharakter dieser Menschen eine Mut und Kraft gebende Bedeutung auf Unterdrückte gehabt hätte und daraus später die Revolution entstanden sei. Doch stimmt das? Stepan im Stück sagt das Gleiche. Das Volk wird sich erheben, schwärmt er, es wird etwas Neues, etwas Gerechteres schaffen, eine Welt ohne Gewalt. Camus meint, nein, auf Gewalt aufgebaute Revolutionen folgt eine noch brutalere Diktatur. Aber die Weltgeschichte zeigt: Ohne Revolutionen hat sich selten etwas verändert. Und allen Revolutionen gingen Aufstände voraus. Aber nicht allen Aufständen folgten friedliche Zeiten. Im Gegenteil.
In einer Szene gelingt es dem Regisseur auch Witz herauszuarbeiten. Im Gefängnis hat Janek eine Begegnung mit zwei Kalfaktoren, deren einer ihn am nächsten Tage hängen helfen wird. Die Begegnung mit diesen zwei „Volksvertretern“ hat Witz und Tragik. Nein, Janek wird von ihnen nicht verehrt, wie er dachte, sondern als Spinner behandelt und nicht mal bedauert. Nein, Janek ist nicht der berühmte Held, vom Volk verehrt. Janek wird als Spinner und Teil seiner Bürgerlichen Klasse behandelt.
Ja, das Volk muss schon mitgehen bei Revolutionen, sonst wird das nichts, so einfach ist es, meint Camus, aber schwer zu machen bleibt es trotzdem. Das zeigt das ganze Stück. Dieses Stück und die Art wie es hier gebracht wurde, regt wahrhaft zum Denken an, es erfüllt damit alle Bedingungen des epischen Theaters von Brecht. Lohnt sich!
Mit Frank, Lauan A., Maximilian Sonnenberg, Mohammad Hassan, Nehad Fandi, Sadam, Steffen, Steven Mädel.
Regie: Peter Atanassow
Bühne: Holger Syrbe
Kostüme: Haemin Jung
Dramaturgie: Franziska Kuhn, Daniel Dumont
Video: Pascal Rehnol
Musikalische Einstudierung: Vsevolod Silkin
Produktionsleitung: Sibylle Arndt
Grafik: Dirk Trageser
Regieassistenz: Caroline Zintz