Scherben im Ernst-Deutsch-Theater in Hamburg – Rezension

Das Theaterstück Scherben (broken glass), von Arthur Miller, ist erst 1994, als Spätwerk des 80-jährigen Dichters  uraufgeführt worden. Das Thema ist eine gekonnte soziopsychologische Studie, in dessen Verlauf sich der vermeintlich Gesunde als krank und die Kranke als gesund herausstellt.

Gleichzeitig thematisiert es den Selbsthass.   Und zwar den, der durch massive und lang andauernde Diskriminierung und Ausgrenzung entsteht und durch Rassismus bei den Opfern vorkommt.  Dieser Selbsthass äußerst sich dann aber selbst rassistisch, was als eine große Tragik herausgearbeitet wird. Arthur Miller hat das gekonnt entwickelt und gestaltet. Das Stück wird momentan noch bis Mitte November im Ernst Deutsch Theater in Hamburg gegeben und ist sehr gut umgesetzt worden.

Isabella Vértes-Schütter perfekt in widersprüchlicher Hauptrolle

Wieder einmal, wie schon in der grandiosen Inszenierung „Verbrennungen“ im selben Haus (vgl. weitere Rezension auf dieser Webseite), spielt hier die Intendantin Isabella Vértes-Schütter selbst überaus stark die Hauptrolle der gelähmten Sylvia. Es gelingt ihr, sie in all ihrer Widersprüchlichkeit gleichzeitiger Gefühle von Angst und Witz, Wut und Scheu, doch als einzige, die die Wahrheit erkannt hat, darzustellen.

Draußen: Tageslicht auf Gartenmöbeln

Die Bühne ist unscheinbar, unprätentiös, ein auf eine Leinwand projiziertes Herrenhaus mit zwei erleuchteten Fenstern im oberen Stockwerk, rechts und links weißes Gartenmobiliar. In der Mitte das Bett der Gelähmten, dass im Dunkeln liegt, wenn die Szenen draußen, beim Arzt oder im Gespräch mit dem Chef des Mannes spielen. Ob eine Szene draußen oder drinnen spielt, entscheidet das Licht, es ist im ersten Fall dem Tageslicht ähnlicher und liegt dann auf den Gartenmöbeln.

Schonend beibringen: Keine organische Ursache für die Lähmung

Es beginnt im Zimmer des Arztes mit einem Dialog zwischen dem Ehemann der an einer Lähmung der Beine erkrankten Frau und dem behandelnden Arzt. Dieser versucht ihm schonend beizubringen, dass es keine organische Ursache für die Lähmung seiner Frau gibt. Der Mann reagiert steif, abwehrend. Später sieht man ihn cholerisch seine Frau anflehen, warum sie nicht mehr laufen könne und ihm das also antue. Die Frau nimmt das Ganze gelassen, nur eins treibt sie um, dass man im fernen Hitlerdeutschland die Juden demütige, schlage und in Lager verschleppe. „Was stört dich das nur so?“, fragt die Schwester, „da ist doch der ganze Ozean dazwischen!“ Die Frau aber beharrt auf ihrer verzweifelten Wut über die Nazis, auch will sie ihren Großvater in einem der auf der Straße gedemütigten Juden erkannt haben. Mit einer Zahnbürste mussten er und andere alte Männer zum Gaudi der Umstehenden die Straße reinigen. Sie fragt sich, warum das die anderen nicht ebenso stark empört, entwickelt zeitgleich dann plötzlich große Angst vor dem Ehemann, die in der Lähmung körperlich wird.

Der Ehemann: Wegen seinem Jüdischsein benachteiligt

Der Ehemann ist ein angepasster, perfekt sein wollender Angestellte in der Immobilienbranche und geht in Geldgeschäften. Er sagt, dass er die deutschen Juden hochnäsig findet und das suggeriert, sie hätten vielleicht einen Anlass geboten, dass man sie in Deustchland so behandelt. Auch hasst er sein “jüdisches Aussehen”. Er spricht viel darüber, dass er nur wegen seinem Jüdischsein überall benachteiligt würde. Das erbost und beschäftigt ihn gleichermaßen. Das Größte ist für ihn, dass der Sohn in der Armee anerkannt ist, das scheint ihm Garant der Akzeptanz und Überwindung seiner  Diskriminierung. Dies muss er ständig betonen. Sobald er unter Menschen kommt, spricht er davon, es ist wie eine Zwangshandlung. Der Frau geht das auf die Nerven, sie spricht ihn darauf an, sie durchschaut seine Abwehr. Schon in der ertsen Szene besteht er darauf, dass er nicht Goldburg heiße, was er für typisch jüdisch hält, sondern Gellburg, englich.

Das Drama: Mehr als eine psychologische Entüllungsgeschichte

Die Frau erscheint einem, abgesehen von ihrer Lähmung, bald ganz eindeutig als die seelisch gesündere, während die Pathologie des Mannes sich nun Stück für Stück in meisterhafter Komposition enthüllt. Aber während man noch glaubt, man wohnt einer psychologischen Enthüllungsgeschichte von Impotenz, Angstneurose und Eheunglück bei, während die Beschäftigung der Frau mit den Novemberprogromen in Nazi-Deutschland dazu ganz unverbunden bleibt, begreift man zum Ende der Geschichte hin, in welch viel größeren Zusammenhang alles steht. So bricht das Glas gleichsam zweimal, im Spiegel des Selbstbildes des Mannes und in einem selbst. Das Letztere in der Erkenntnis, dass ein Rassismus, beim Opfer immer zu Selbsthass und dieser Selbsthass zu einer durch Abgrenzungsbedürfnis motivierten Kopie desselben Rassismus führt und so eine unselige Opfer-Täter-Liaison entsteht.

Teufelskreis: Rassismus führt zur Selbststigmatisierung, diese wiederum führt zu einer Kopie des Rassismus

Die politische Dimension, immerhin 1994 geschrieben, weist über die Nazizeit hinaus. Am Beispiel des Antisemitismus wird hier Rassismus als eine sich auf die Opfer übertragende Selbst-Stigmatisierung mit Rassismus kopierenden Anteilen definiert und dann austangiert, wieviel Angst das machen kann. Eine spannende Sache.  Ähnlich wie in Max Frisch´s Andorra schreiben sich die Opfer schließlich selbst die wahnhaften, stigmatisierenden Merkmale und Eigenschaften zu und versuchen diese stellvertretend überall und in jedem zu bekämpfen. Wo Menschen aufgrund ihres Äußeren, ihres angeblichen Andersseins, ihres angeblichen Minderwertes als Mensch aus der Gemeinschaft der anderen Menschen ausgeschlossen und von diesen gehasst und verachtet werden, bäumen sich Menschen dagegen auf und wollen nicht dazu gehören. Selbsthass ist nicht selten die Folge.

Spieler: Gut besetzt, punktgenau die Rollen getroffen

Alle fünf Mitwirkenden waren gut besetzt: Henry Arnold hat den Philipp Typus köstlich steif und psychopathisch abgebildet, aber auch so überaus normal mit großem Wiedererkennungswert, Sylvia  war bestens in allen ihren Szenen einer weit blickenden Hysterikerin, Nele Mueller-Stöfen hat in der Schwester Nele gut getroffen, dass die Dummheit die Menschen seelisch gesund erhält und Steffen Gräbner gab den Arzt gewitzt und geistreich, auf sehr lebendige Art. Auch Frank Jordan, der den reichen Amerikaner gab, traf punktgenau seine Rolle. Unbedingt hingehen.

Noch bis 9.11. im Hamburger Ernst-Deutsch-Theater

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