Münsteraner Flugblatt von 1958
Ich möchte hier ein Flugblatt dokumentieren, dass die Journalistin Ulrike Meinhof als junge Studentin zur Aufrüstung der Bundeswehr geschrieben hat, damals als erklärte Pazifistin. Danach hat sie bis 1970 lange als eine anerkannte und Deutschland weit bekannte, investigative Journalistin gewirkt. Zum Schluss hatte sie sich einige Jahre mit der Aufdeckung von Grausamkeiten in Fürsorgeheimen beschäftigt. Ihre journalistische Biografie wird oftmals, aufgrund ihrer weiteren biografischen Entscheidungen, vergessen. Weiteres dazu hier:
Ulrike Meinhof
Stud.phil. Münster (Westf.), den 15.Mai 1958
Brief an die Studentenschaft
Wir Studenten und die atomare Aufrüstung der Bundeswehr
Es soll hier zur Frage der atomaren Aufrüstung der Bundeswehr Stellung genommen werden. Wir Studenten können und dürfen in dieser Auseinandersetzung nicht länger schweigen, und ich meine, es müsste uns gelingen, in ein offenes Gespräch über diese Frage zu kommen.
Man sagt uns, dies sei eine Frage der Parteipolitik, und man sagt uns, der Protest gegen die atomare Aufrüstung sei demokratisch illegal. Andererseits aber heißt es im Grundgesetz, dass in unserer Demokratie alle Gewalt vom Volke ausginge und unser Parlament sei für die Mehrheitsverhältnisse des Volkes. Und das heißt doch unmissverständlich, dass die Verantwortung für das, was ein Parlament beschließt, vom Volke zu tragen ist. Was aber ist, wenn das Parlament in einer lebenswichtigen Frage nicht mehr die Meinung des Volkes repräsentiert? Da gibt es nur zwei Antworten: Entweder wir schweigen, wir geben zu, dass wir nicht mehr demokratisch regiert werden, wir finden uns damit ab und versuchen, vor uns selbst zu rechtfertigen, dass wir verantwortungslos sind. Oder aber wir sprechen; wir halten fest am Grundgesetz und treten für das, was an Verantwortung auf uns liegt, ein. In jedem Falle aber muss eines gesagt werden: Die Frage der atomaren Aufrüstung geht j e d e n von uns an, insofern j e d e r von einem Atomkrieg betroffen wäre, j e d e r von einer friedlichen Lösung der Spannungen zwischen Ost und West, j e d e r von einer Diktatur östlicher Prägung. Ich glaube, hierüber dürfen wir uns auch mit den Fürsprechern der atomaren Aufrüstung einig wissen. – Aber was ist eigentlich los, wenn wir unter Umständen nicht mehr das Recht haben sollten, zu einer Lebensfrage von so großer Bedeutung Stellung zu nehmen?
Es ist eine Verkehrung der Tatsachen, hier noch von Parteipolitik zu sprechen. Die Mahnrufe Pius XII.- ist das Parteipolitik? Die Reden Albert Schweizers, Bertrand Russels und John Priestleys, die Erklärung der fast 15 000 Frauen, die u.a. von Gertrud von Le Fort und Ina Seidel unterschrieben wurde, der Aufruf der Hamburger Ärzte und vieler anderer – ist das Parteipolitik? Die Auseinandersetzung um die Frage allein in den letzten Wochen lässt keinen Zweifel darüber, dass der Widerstand gegen die atomare Aufrüstung quer durch alle Parteien, alle Konfessionen, alle Berufsgruppen, ja – aller Völker geht. Das hat nichts mehr mit Parteipolitik zu tun.
Man will durch die atomare Aufrüstung der Bundeswehr die Russen vor einem Angriff abschrecken. Am Rande sei daran erinnert, dass schon Tirpitz den Aufbau seiner Flotte mit der Theorie der Abschreckung begründete (gegen England) – sie hat den Krieg nicht abgewendet, und Hitler sprach von Abschreckung durch Rüstung (gegen Frankreich); und so wenig diese historischen Ereignisse mit unserer Situation vergleichbar sind, sie sollten uns misstrauisch machen gegen diese Theorie. Besonders aber dann, wenn man andererseits weiß, dass eine Vermehrung der Atomwaffen besitzenden Länder die Gefahr eines Krieges, der „aus Versehen“ entsteht, erhöht.
Es war ein „Versehen“, dass es nicht schon vor einigen Wochen losging, als amerikanische Radargeräte fälschlich meldeten, „dass sich größere Bomberverbände…im Anflug auf die Vereinigten Staaten befänden“, und als der verantwortliche Luftwaffengeneral Power – Gott sei Dank – lange genug mit dem Befehl zum Gegenschlag zögerte, bis sich die Meldung als Irrtum erwies (s. „Wehr- und Wirtschaft“ Heft 2/3, 1958). – Wir wollen dies Risiko nicht eingehen; wir wollen nicht dass „Hunderte von Millionen Menschen“ ermordet werden, wir wollen nicht, dass unsere Kinder als Idioten geboren werden, blind, mit durchlöcherten Knochen, bauchlos und ohne Beine, Gehirn und was des Entsetzlichen mehr ist. Wissen wir denn nicht, dass Wasserstoffbomben, auf Ost-Berlin und Prag abgeworfen, – und so ist es für den sog. „Gegenschlag“ geplant – bis über London hinaus – bei entsprechender Windrichtung – die Bevölkerung mit hoher Sterblichkeitsziffer verseuchen, d.h. zu 80%? Ich selbst muss ehrlichen Herzens sagen, wer eine russische Diktatur mehr fürchtet als einen Atomkrieg, den wird niemanden daran hindern können, in solchem Fall Selbstmord zu begehen; mich aber und Millionen andere soll er leben lassen und die Sünde des Selbstmords nicht durch die Sünde des Kollektivmords unter der Bezeichnung „Schicksal“ beschönigen.
Man tut uns bitter unrecht, wenn man uns vorwirft, wir hätten vor der Drohung des Ostens kapituliert und trieben nun unser Geschäft mit der „Atompanik“. Tatsachen zur Kenntnis nehmen und daraus seine Konsequenzen ziehen, das hat nichts mit „Panikmache“ zu tun. Was wir wollen, ist dies: Wir wollen uns in den aufreibenden Kampf der politischen Auseinandersetzung begeben und nicht in den tödlichen Kampf einer militärischen Auseinandersetzung. Wir glauben, dass man eine militärische Auseinandersetzung ernstlich nur vermeiden kann, wenn man das Denken in militärischen Kategorien verlässt, und alle moralischen, ethischen und politischen Kräfte einsetzt, um aus der spannungsvollen gegenwärtigen Situation herauszukommen. Wir sind davon überzeugt, dass unsere heutigen Probleme: Erhaltung der Freiheit und des Friedens, nicht befriedigend gelöst werden können, wenn man auf dem Vulkan der Atomwaffen Politik macht, der, wenn er ausbricht, alles zerstört, was erhalten werden sollte.
Man soll uns nicht sagen, diese Auffassung sei unrealistisch. Sie fußt im Kern auf einem sehr bitteren Realismus. Wir alle wissen, dass die Sicherheit, die uns eine atomare Aufrüstung der Bundeswehr geben soll, keine echte Sicherheit ist. Dem würde auch Herr Strauß kaum widersprechen. Wir wissen umgekehrt, dass wir auch ohne Atomwaffen keine unbedingte Sicherheit haben. Wir brauchen das nicht zu leugnen. Unser Problem ist dieses: Welche Unsicherheit hält uns die Möglichkeit offen, Mensch zu bleiben, welches Risiko dürfen wir auf uns nehmen: Das Risiko der Massenvernichtung oder das Risiko der menschlichen und psychischen Anfechtung? Und wir glauben, dass wir uns für Letzteres entscheiden müssen, weil wir damit im Bereich des menschlich Möglichen bleiben, in einem Bereich, den zu bewältigen wahrscheinlicher ist als die Möglichkeit, einen Atomkrieg zu überstehen.
Und noch eins: Gott hat seine Kirche in Russland durch 40 Jahre atheistischer Propaganda hindurch erhalten, wunderbar erhalten – haben wir da ein Recht und eine echte Begründung dafür, das sog. „Christliche Abendland“ in die Hand von Massenvernichtungsmitteln zu geben? – Wir glauben, dass der Mensch in j e d e r Situation, unter jedem System, in j e d e m Staat die Aufgabe hat, Mensch zu sein und seinen Mitmenschen zur Verwirklichung seines Menschseins zu helfen, und dass es nicht darum gehen darf, sich dieser Aufgabe durch das Risiko der Massenvernichtung zu entziehen. Es ist nicht an uns, den, der unsere Situation und Aufgabe anders beurteilt, zu schmähen. Aber es darf auch nicht an den Andersdenkenden sein, den, der zu großen persönlichen Opfern bereit ist, zu verfemen.
So lassen Sie mich abschließend eine Bitte aussprechen: Wenn in der nächsten Zeit innerhalb der Studentenschaft Äußerungen gegen die atomare Aufrüstung der Bundeswehr ausgesprochen werden und zu Protesten aufgefordert wir und wenn dann einige unter Ihnen ihrem Widerspruch gegen unsere Unternehmungen Ausdruck geben wollen, so tun Sie es bitte nicht in der Form der persönlichen Diffamierung und politischen Denunziation. Ich meine, diese Auseinandersetzungen sind unserer nicht würdig. Wir wollen für unser Menschsein eintreten an unserem Teil; dazu gehört, dass man es uns nicht schwermacht, das Menschsein des Andersdenkenden zu respektieren.-
D i e F r a g e d e r a t o m a r e n A u f r ü s t u n g i s t e i n e F r a g e d e r M e n s c h l i c h k e i t u n d d e s G e w i s s e n s. W i r m ü s s e n u n s d a r ü b e r i m K l a r e n s e i n, d a s s w i r f ü r d a s, w a s g e s c h i e h t, v e r a n t w o r t l i c h s i n d, d e n n n o c h l e b e n w i r i n e i n e r D e m o k r a t i e. W i r w o l l e n u n s n i c h t n o c h e i n m a l w e g e n „V e r b r e c h e n g e g e n d i e M e n s c h l i c h k e i t“ v o r G o t t u n d d e n M e n s c h e n s c h u l d i g b e k e n n e n m ü s s e n. U n d e s w ä r e e i n V e r b r e c h e n, m i t M i t t e l n d e s M a s s e n m o r d s K r i e g z u f ü h r e n, – g a n z g l e i c h g ü l t i g, a u f w e l c h e r S e i t e m a n s t e h t – e i n V e r b r e c h e n, f ü r d a s e s k e i n e, a b e r a u c h g a r k e i n e E n t s c h u l d i g u n g g i b t.
Herausgeber: Studentischer Arbeitskreis für ein kernwaffenfreies Deutschland, Münster (Westf.)
Margarete Auener, stud.theol. Ulrike Meinhof, stud.phil.
Erich Dangschat, cand.med. Arnold Wilhelm Röhrig, cand.phil.
Franz-Jacob Gerth, stud.theol et phil. Heinrich Schieche, stud.theol.
Harald Hartung, cand.phil. Jürgen Seifert, cand.iur.
Werner Otto Jedamzik, stud.iur. Karl-Heinz Stanzick, stud.rer.nat.
Manfred Kock, stud.theol. Wolfgang Sünkel, cand.phil.
Lothar-Wilhelm Koring, cand.iur. Günter Weigand, cand.rer.pol.
Armin Leutbecher, stud.rer.nat. Ingrid Witting, stud.rer.pol.
Peter Meier, cand.theol. Friedrich Franz Ziegler, cand.iur.
(Der Text ist rechtschreibkoorigiert abgeschrieben, Original im Stadtarchiv Münster)