Volksfeind im Rostocker Theater – Rezension

Zunächst gibt es eine »Sturmwarnung«, denn das Rostocker Vierspartentheater ist immer noch bedroht. Von den Reichen will die Stadt das fehlende Geld nicht nehmen, und weil die öffentlichen Kassen leer sind, bleibt nur der Etat für Kunst. Macht ja nichts, ist ja nur was für Privilegierte. Das einfache Volk braucht kein Theater. Schon gar keins, das zum Widerspruch anstachelt. Das einfache Volk braucht blühende Landschaften, und sei es im Fernsehen, das reicht.

Theaterintendant Sewan Latchinian und sein Team sehen das anders. Einmal im Monat klettert ein Freund des Theaters, als Burgwächter verkleidet, auf den Theaterturm, um die Sturmglocke zu läuten und per Megaphon seine Meinung zu verkünden. Diesmal war es Wolfgang Methling, ehemals SED, dann lange Umweltminister und Linksfraktionsführer in Mecklenburg-Vorpommern, nicht zu verwechseln mit Roland Methling, Oberbürgermeister, ebenfalls ehemals SED, heute aber »Unabhängiger Bürger« und im Hauptberuf Manager, der gerne Rostocker Intendanten feuert.

Der eine ist Arzt und der Wahrheit verpflichtet

Von zwei Brüdern, die Stockmann heißen, handelt Ibsens Stück »Ein Volksfeind«. Der eine ist Arzt und der Wahrheit verpflichtet, der andere als Bürgermeister dem Geld. Das Heilwasser des Kurorts, in dem sie leben, enthält Gifte aus einer Fabrik. Der Arzt will die Menschen warnen. Sein Bruder lässt ihn im Verbund mit der Gewerbemafia und Journalisten zum Volksfeind ausrufen. Die Massensuggestion wirkt. Nach der Zerstörung der Wohnung des Arztes soll er fortgejagt werden; ihm bleibt beinahe nur der Strick. Das 1883 uraufgeführte Drama wird in Rostock wie ein heutiges aus Gorleben oder Stuttgart aufgeführt. Zentrales Thema ist das Entstehen der »öffentlichen Meinung«.

Inga Wolff mit gefärbtem Haar und Miniröckchen

Das Bühnenbild besteht aus nicht viel mehr als einem Strandkorb. Die Spieler bieten köstliche Parodien. Herausragend wieder mal die gerade ausführlich in Theater heute gewürdigte Inga Wolff als Redakteurin des Volksboten mit gefärbtem Haar, Miniröckchen und ehernen Grundsätzen: Die Wahrheit einer Zeitung ist die ihrer Honoratioren. Steffen Schreier gibt den Drucker Billing erst derb-proletarisch im Kittel, dann im Anzug – ein Sinnbild für die Wendigkeit des Kleinbürgertums. Großartig in seiner Verschlagenheit ist Alexander Wulke, der als Inhaber der Druckerei das Besitzbürgertum vertritt. Leider ist die Bürgermeisterfigur (Ulrich K. Müller) wesentlich besser durchkomponiert als der blässliche Gegenspieler. Der Darsteller des Arztes, Till Demuth, ist viel zu jung für eine Tochter im Lehrerberuf und seine schwangere Ehefrau zu gleichförmig angelegt.

Kompakte Majorität gegen die Interessen des Volkes geformt

Was als Farce beginnt, kippt mit einer Bürgerversammlung – sehr gut die Idee, diese im Zuschauerraum stattfinden zu lassen – in eine Tragödie. Dass der Arzt am Schluss plötzlich eine Schule gründen will, wirkt angepappt. Ich fand die Inszenierung im zweiten Teil dort am stärksten, wo eine »kompakte Majorität« gegen die Interessen des Volkes geformt wird – ein hochaktueller Vorgang.

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