Der Selbstmörder im Berliner Ensemble – Rezension

In: junge welt/ feuilleton, 24.2.16

Bei dem Stück „Der Selbstmörder“ (Premiere am 17.2. im BE, in der Regie von Jean Bellorini ) ist mir wieder klar geworden, warum es einen Unterschied macht, ob ich mir echte Theater-Dichtung anschaue oder als Versuchskaninchen diene, wenn Regisseur XY Prosa dramatisiert. 

Das Stück „Der Selbstmörder“, aus dem Jahre 1928, geschrieben vom russischen Dichter Nicolai R. Erdmann (1900), den ich noch nie in Deutschland gespielt gesehen habe,  hat dem Dichter Verbannung, Ächtung und Ausgrenzung beschert, es hat drei Jahrzehnte nach Entstehung  erst Uraufführung gehabt. Es hat den Dichter Blut, Schweiß und Tränen gekostet und es ist in der Lage über die heutige politisch-historische Situation (Arbeitslosigkeit, Klassenabsturz) eine haarscharfe, feinjustierte Aussage zu treffen, die das Publikum elektrisiert, während es eben noch amüsiert ist.

Lust auf Leberwurst

Es beginnt mitten im Ehestreit, Semjonowitsch Podsekalnikow liegt im Bett und hat Hunger auf Leberwurst. Erst nach langem Rufen erhebt sich schließlich wütend, hinter ihm im Bett, Maria, seine Frau.  Sie hält ihm eine Standpauke, ein Wort gibt das andere, aus der Lust auf Leberwurst wird eine Grundsatzdiskussion über seine Arbeitslosigkeit, und die Demütigung, von den wenigen Groschen mit gefüttert zu werden, die seine Frau verdient, bewirkt, dass er mit den Worten droht, ob er wohl lieber weg sein sollte, sie solle das nur sagen. Als sie kurz zur abseits gelegenen, durch eine schmale Holztür stilisierten Toilette abgeht, verschwindet er wütend. Die Toilette ist dabei etwas nach hinten rechts versetzt, als alte Holztür im Raum installiert, so schmal und typisch, dass sie die Ärmlichkeit des kleinbürgerlich-proletarisierten Haushalts gut deutlich macht.

Zwischen Naivität und Bauernschläue

Die Schwiegermutter ( Carmen Maja-Antonie, überaus lohnenswert) hat ihre Figur sehr schön dialektisch, zwischen Naivität und Bauernschläue schwankend aufgebaut, wird nach dem Lärm des Streits auf einer Treppe sichtbar, hockt dort und raucht, deklamiert und singt ein wunderschönes altes russisches Lied. Zu ihr geht nun Maria, klagt ihr erst über ihre Wut, dann, dass er verschwunden sei und ihre Angst, wegen seines letzten Satzes lässt sie fragen, ob er sich nicht womöglich etwas angetan hat.  Deutlich wird, wie eng der Zusammenhalt der beiden Streitenden doch in Wirklichkeit ist, wie sie ein gemeinsames Klassengefühl eint, denn nun klagt sie nur noch die Situation an, nicht mehr ihn.

Sich mit einer Pistole umbringen

Sie rüttelt den Nachbarn auf, der vor einer Woche seine Frau verloren und sich nun aber schon wieder mit einer anderen getröstet hat, diesem erzählt sie, dass ihr Mann sich etwas antun wollte, als sei es eine Gewissheit, daraus wird bei ihm, dieser habe sich mit einer Pistole umbringen wollen und als der dann schließlich den verwirrten Semjon trifft, ist dieser schon zum klaren Selbstmörder gestempelt, auf den man begütigend einreden muss.  Semjon seinerseits bringt das Ganze erst auf die Idee: Warum nicht, denkt er und besorgt sich nun tatsächlich eine Pistole.

Plötzlich besuchen ihn viele Leute

Aus diesem Anfang entwickelt sich im Laufe des Stückes eine allegorische Durchdringung der nachrevolutionären russischen Gesellschaft. Seine Suididabsichten sprechen sich im engen Proletarierhaus rasch herum, plötzlich besuchen ihn viele Leute, alle wollen, dass er sich für ihre Ziele opfere: Gewerbetreibende, Intelligenzler, unglückliche Frauen, alle besuchen und beknien ihn, sich für sie oder ihre Ziele umzubringen um damit ein Fanal gegen dies und das zu setzen. „In unseren Zeiten“, sagt der Repräsentant der Intelligenzija, „kann nur ein Toter aussprechen, was ein Lebender denkt.“, andere kommen hinzu, wollen das Gleiche, der Nachbar lässt Geld auf die Sache aufnehmen wie auf eine Wette, eine ganze Gesellschaft wird in witzig zugespitzter Weise in typisierten Figuren gezeigt, die ihn zum todesmutigen Märtyrer machen wollen.

Wie sich die Wirtschaft entspannen, die Unterdrückung vermindern

Eine enorme Chance, sagen sie, täte sich auf, und Semjon leuchtet das ein.  Als Semjons Todeszeitpunkt beschlossene Sache aller ist, nimmt die Gruppe seiner „Jünger“ an einer letzten großen Tafel zum Abschiedsschmaus teil und allen bessert sich die Stimmung zusehends, bis auf Semjon, der immer wieder nervös anfragt er, wie viel Zeit ihm noch bliebe. Die Gemeinschaft indessen träumt davon, wie sich die Wirtschaft entspannen, die Unterdrückung vermindern, der Diktator bessern und die Gesellschaft nun quasi über Nacht ins Positive verändern würde.  Das fühlt auch Semjon, der besonders glücklich ist durch die viele Aufmerksamkeit, das gute Essen und die vielen Komplimente der Frauen.

Komik und Tragik vereint

Nun muss man sich die Figur der Hauptperson Semjon anschauen, wie sie gespielt und komponiert  ist: Cholerisch und witzig, listig, komisch, staunend und großartig typisiert ist sie vom Dichter angelegt, und so wird sie von Georgios Tsivanoglou, einem in seiner Wandlungsbreite einzigartig witzigen Schauspieler, der Komik und Tragik besonders gut vereint, Grobschlächtigkeit, Wut und Zartheit zusammenbringen kann, auch gespielt. Herausragend! Man glaubt, nur ihn habe der Dichter vor sich gesehen, als er das Stück konzipierte. Der typische, ins Proletariat hinab gedrückte Kleinbürger, der nun zum Helden des Todes werden soll.

Weil ihm da die Erfahrung fehlt

Nur dumm, das Leben wird in der Heldenrolle immer schöner und endlich wieder lebenswert! Semjon will nicht mehr sterben, Semjon hat wieder Mut bekommen, er hängt am Leben, kann über den Tod nichts sagen, weil ihm da die Erfahrung fehlt („Das ist es ja gerade, was wird um halb eins sein?“) Köstlich witzig von Tsivanoglou gegeben. Er zögert solange den Zeitpunkt seines programmierten Suicids hinaus, bis er sich schließlich lebendig in den Sarg legt. Alle sind zufrieden bis auf Frau und Schwiegermama, die sind traurig. Da reicht es ihm dann und er beschließt „auferstehen“ zu wollen, erhebt sich und teilt allen mit, er wolle leben und habe es sich anders überlegt.

Figuren bilden Leben ab

In diesem Stück stimmen die Dialoge, sie sind knapp, leicht verständlich, aufeinander bezogen und aktuell, es stimmt der Spannungsbogen, es reißt einen mit ohne zu langweilen, es stimmt die Bühne, sie ist schön schlicht und einfach und es stimmen die Figuren, sie bilden Leben ab. Einem über Jahrzehnte verfemten Dichter wird ein aktuelles Denkmal unserer Zeit gesetzt, das sich sehen lassen kann! Stanislawski brach angeblich eine Probe des „Selbstmörders“ wegen eines Lachkrampfes ab, Gorki nannte Erdmann den neuen Gogol, Michail Bulgakow hat einen Brief an Stalin geschrieben, in dem er sich für Erdman einsetzte.

Berliner Ensemble: 23. Feb., 1., 20. März u.w.: www.berliner-ensemble.de

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