Krach im Bällchenbad Kindertheater-Rezension
8.10.10/ jw feuilleton
Eine an IKEA angelehnte Spiele-Landschaft, wo nacheinander zwei Kinder abgegeben werden, sehr bunt und kitschig, bieten die ausgesuchten Spielutensilien aber doch viele Spielmöglichkeiten, wie erst im Verlauf des Spieles klar wird. Puppenecke im rosa Zelt, Fußballtor, bunte Sitzkissentiere, Verkleidungskorb, Schaukel mit Baldachin, Bällchenbad. Wie dann gespielt wird, allein das ist der Theatergang auch für die vielen in der Premiere anwesenden Erwachsenen absolut wert gewesen: Ein Lehrgang ins Wesen des Kinderspiels, dass ein Erwachsener sonst nicht so oft zu sehen kriegt. Unglaublich echt, wie immer beim Grips!
Aber von vorn: Zuerst wird ein Mädchen „abgegeben“, Rosa wird sie gerufen, in einer unverständlichen, aber italienisch klingenden Phantasiesprache. Schüchtern und neugierig schaut sie sich um, erkundet zunächst zaghaft die Spielsachen. Währenddessen ertönt eine Stimme aus dem OFF des Kaufzentrums: „Kaufen sie…Sonderangebot…Schweinegulasch“ Sie springt mit Schmackes zuerst ins Bällchenbad, 10m, steht auf der Absprungstufe, dann entdeckt sie den bereitstehenden Einkaufswagen und kopiert Einkaufsverhalten. Die Szene begeistert alle, da sie durch Erwachsenenkarikatur von umwerfender Situationskomik ist, die Kinder in den ersten sechs Reihen kreischen vor Vergnügen. Die Erwachsenen kriegen vorgeführt wie stark die OFF-Beeinflussung wirkt. Die Kinder reizt bereits jede Kleinigkeit zum Lachen auf: Rosa flicht in ihr Einkaufs-, Verkleidungs-, Ausprobierspiel nun einzelne Wörter der OFF-Stimme hinein, deutlich wird, den Inhalt versteht sie nicht, auch das ist herrlich komisch. Danach spielt sie lauter typische Mädchenspiele verkleidet sich, kopiert Sängerinnen, wird zum Fernsehstar mit rosa Engelsflügeln. Dann ab ins regenbogenfarbige, nach Jungen und Mädchen getrennte Klo hinterm Streifenvorhang. Auftritt des Jungen, eines Boris. Dieser will gar nicht, kann sich nicht von seiner Mutter trennen, quengelt, findet alles blöd, unterm Arm geklemmt den Fußball. Seine Phantasiesprache hat einen russischen Anklang. Sein Verhalten ist großspurig mit Angst vermischt, die Kinder kennen all das und lachen über jede seiner Bewegungen, auch hier nicht voller Schadenfreude, sondern, weil sie etwas wiedererkennen und dies jedesmal eine kleine Überraschung ist. Die Choreografie, die Jens Modalski auf der Stufe des Bällchenbads zeigt, als er sich nicht zu springen traut, ist einzigartig, der Saal tobt vor Vergnügen. Danach sitzt er auf einem Sitzmarienkäfer und spielt Auto: „KAVOKA“, sein Gesicht bei diesen tollkühnen Fahrten – man hat es tausendmal gesehen, so spielen Jungens Auto und üben sich in die Rollenerwartungen ein.
Rosa kommt zurück aus dem Klo, sie begegnen sich, verstehen sich nicht, fragen „Hah? und Häh? und Häh?, strecken mehrmals die Zungen gegeneinander aus, damit ist der Fall erledigt, sie verzieht sich in ihr rosa Puppenzelt, man hört leise die Puppenküchengeräusche des Mädchenrollenspiels, er markiert nun in vehementerer Weise den Max: Er stürzt sich prügelnd auf eine menschengroße wattegefüllte Raupe Nimmersatt, sie kommt weinend aus dem Zelt, hält ein Baby im Arm, gibt ihm zu trinken, er spielt kämpfen, spielt einen schwer tragenden Mann, und ab und an bewegen sie sich wie zufällig aufeinander zu. Als er das Fußballtor freilegt und mit dem ersten Schuss das Mädchen in ihrem Puppenzelt schmerzhaft trifft, rast Rosa wütend auf ihn zu, nimmt ihm den Ball weg und zwingt ihn alles aufzuräumen. Danach erklärt sie ihn zum Papa, spielt, sie sei die Mutter, die als „Fotomodella einkaufen geht. Allein spielt er mit den Puppen seine Spiele, immerhin wirft er sie nicht nur fort. Als die „Mama“ zurückkommt, hat sie aus dem Ball in der Tasche einen Hund an der Leine gemacht und sie spielen gemeinsam Hunde und das schließlich ohne jede Requisiten im reinen Rollenspiel, dabei kommen schon erste Berührungen zustande, Beziehung und Verständnis bahnen sich an. Doch die Harmonie erfährt eine Retardierung, der Junge packt den Fußball aus, sie hat dazu keine Lust, und nach einigen Kämpfen fehlt der Puppe durch seine Schuld der Kopf. Sie rächt sich fürchterlich, zersticht den Fußball. Er sitzt nun weinend, kein Erwachsenenweinen, das Kinderweinen hämisch zum „Heulen“ verzerrt, keine Spur Lächerlichmachen kindlichen Gefühls , einfach nur weinen, mit Schniefen und Tränen abwischen, zusammengesunken sitzt er da und dauert alle. Das Publikum schweigt. Rosa kommt näher, repariert ihre Puppe, dann wundersamerweise den Ball und verkleidet sich als Junge um mit ihm Fußball zu spielen. Das muntert ihn auf, aus dem Loch des Balls hängt eine Schürze, das erinnert an das vormalige Zungeausstrecken, nun lachen sie darüber, er bindet sich auch etwas um, ein Mädchenutensil? In rosa? Er schaut sich um, ob jemand guckt. Sie wird abgeholt, sie haben sich ein Zusammenspielzeichen ausgedacht, sie macht es zum Abschied, er bleibt stehen, schaut zum Publikum, warum nicht?
Grips steht für eine Pädagogik ohne Zeigefinger, für Kind gerechtes Spiel, für Einfühlung in Kinderseelen und für Überwindung der starren, angeblich biologisch bedingten Rollenvorgaben und unabänderlichen gesellschaftlichen „Gesetze“. Es ist ein Fehler, wenn man glaubt, dass linkes Bewusstsein zu schaffen alleinige Sache der Politiker in den Parlamenten ist, Grips steht für ein Konzept kritischer Bewusstseinsbildung vom Kleinkindalter an, und das mit Witz und Freude und Menschlichkeit, gegen Manipulierung und Fernsteuerung, gegen alle Konventionen schwarzer Pädagogik, die sich in den letzten zehn Jahren schon wieder so herrlich in Deutschland eingenistet haben.
Das Grips bringt etwas fertig, was im Kindertheater nicht leicht ist, dass man mit den Kindern lacht, nicht über sie. Das ist der große Unterschied zu den konventionellen Kinderunterhaltungs- und Kindertheatersketchen in den Kauf- und Kinderspielelandschaften, die hier gezeigt wurden. Dort bringen Clowns Stücke auf die Bühne oder werden Märchen adaptiert, wo kindertümelnde Lustigkeit herrscht, die sich lustig macht, nicht lustig ist, stattdessen für Erwachsene und Kinder gleichermaßen peinlich und langweilig. Grips bringt es zuwege, Aufklärung, also nachdenken, mit echtem Spaß und echtem Lachen zu verbinden, ein Muss für jeden Pädagogen, jeden Vater, jede Mutter, alle Großeltern: Schnappt euch eure Kinder und Enkelkinder und rein ins Bällchenbad! Heraus kommt ihr erfrischt.