Die Winterreise – Rezension
Die Lieder der Winterreise von Schubert haben Elfriede Jellinek durch das ganze Leben begleitet, die Bilder von unerfüllter Sehnsucht, Einsamkeit, Staunen, Fremdheit und gefrorenen Tränen waren für sie Anlass, sich selbst darin zu sehen, aber auch die Welt, wie in einem Spiegel. Sehnsucht ist das Gefühl, das ein Mensch in Isolation fühlt, in starker Einengung, in Angst, es weist ihm den Weg hinaus, aber er vermag ihn nicht zu gehen. Auch dieses Gefühl kennt Elfriede Jellinek seit ihrer Kindheit und hat es oft beschrieben. So wird der Angekettete zum virtuellen Wanderer, phantasiert sich durch eine Natur gehend, die ihm dann zur Bilderreihe seiner Wünsche wird. „Stehend vorwärtskommen, wohin auch immer“, nannte es Jellinek in ihren Dankesworten zur Verleihung des Mühlheimer Dramatikerpreises 2011.
Ihr Stück „Winterreise“ ist der diesjährige Auftakt des Deutschen Theaters in Berlin und erinnert im Text ein wenig an Thomas Bernhards Monolog des alten Mannes in „Einfach kompliziert“, es ist eine Art Bilanz: „Wer bin ich, wo kam ich her, wo will ich noch hin?“ Einer Bilanz des eigenen Lebens, in dem sich so sehr allgemeines Leben spiegelt, dass einem schwindelig werden kann. Ein großartiger Text, der sich durch eine Sprache auszeichnet, die unerwartet, selbstironisch und entlarvend, wie lautes Denken dahinzurasen scheint.
Andreas Kriegenburg, lässt das Stück auf einer grünen Blumenwiese spielen, in der fünf Teile eines Ichs miteinander streiten, die durch Frauen gespielt werden, die es in sich haben: Maria Schrader, die im Thalia Theater Hamburg zuhause ist, sie gibt die Zitate zur Klavierspielerin, die in dem Stück vorkommen, Annette Paulmann, sie spielt ihre Rolle witzig, aufmüpfig und geistreich, und drei Frauen des DT-Ensembles, die kühl, kantig und zerbrechlich wirkende Judith Hofmann, sehr weiß im Gesicht, die mütterlich resolut wirkende Anita Vulesica, selbstbewusst, oft wütend, und Susanne Wolf, hier mit Jellinek-Frisur ein großartiges Imago der Künstlerin, trotzig, bestimmt, verschlossen. Sicher, man weiß es und erfährt es hier deutlich, vier Personen reichen nicht um die Vielheit eines menschlichen Lebens aufzuspalten, es müssten mindestens fünfzig sein, denn: „ Ich bin schon fort und weiß nicht, wie ich dort hingekommen bin, bin verschwunden in dem, was ich sein wollte, was ich besorgen wollte, was ich mir alles erträumt habe.“ Sehnsucht, ein mit Blick auf die Zukunft gerichtetes Gefühl, das einen ewig irgendwohin zu ziehen scheint, kann in der Gegenwart nur scheitern: „Das Jetzt ist ein Irrtum…, im Vorbei kann ich mich nicht mehr erfreuen, denn es ist ja schon vorbei, man hat mich ja rausgeworfen, es bleibt mir nichts anderes übrig, als mein Leben von hinten nach vorn… im Schreiben wandern..“
Es geht um gestohlene Kindheit: „Gel Mama, das hast du mir vermasselt!“, um verlorene Beziehungen, um Unfähigkeit zu Beziehungen: „Es ist vorbei!“, um Schmerz, Schuld und Sühne in Nachfolge von Kafka und Dostojewski: „Kreide kann man leicht auslöschen, fast so leicht wie Menschen“ Große Worte, lose und assoziativ aneinandergereiht, lassen den Zuschauer ratlos, mitunter aufgewühlt zurück, übergeben ihm die Verantwortung für das, was läuft.
Andreas Kriegenburgs Umsetzung mit den fünf großartigen Mimen lebt durch pantomimische Einlagen von Fesselungen, Messerstechereien, eine der Frauen wird mit Scheren an eine Bank festgenagelt, von quälenden und selbstquälerischen Bildern des Absturzes, des gewalttätigen Festhaltens. Trotzdem bleibt der Gesamteindruck zäh und anstrengend. Bravo, könnte man sagen, der Zuschauer soll hier kein bequemes Plätzchen finden, wo er sich berieseln lassen kann, anstrengend soll es für ihn sein, das ist das Mindeste. Doch hätte die Bildersprache durchaus ein wenig mehr Abwechslung vertragen können. Ich musste an die Kontrakte des Kaufmanns von Nikolas Stemann im Thalia Theater Hamburg denken (ebenfalls in dieser Zeitung rezensiert) und die großartige Umsetzung in eine überaus facettenreiche Bilder-, Figurenanordnungs-, Medienvielfalt, eine Aufsplitterung der Musik, der Szenen, mit verschiedenen Bühnenbildern, Einsprengseln der Realwelt, der sozialen Kultur, eine Welt aus mindestens ebenso vielen Wundern wie Wortwunder aus Jellineks Texten sprudeln. Das war auch anstrengend, aber niemals ermüdend und darum der Intention Jellineks nach Aufrüttelung, nach Aufstand, nach Kampf, viel angemessener. Hier blieb alles brav und individualistisch, irgendetwas war zu redundant, zu gewollt, zu künstlich. Die kitschige Blumenwiese schien zu Schuberts Liedern zu passen, aber das war zu eindeutig, zu wenig originell, es blieb auch zu lange immer nur das `Durch-die-Wiesen-Laufen´ der Frauen. Aber auch, als sich Maria Schrader an das Klavier fesselte, als die andere mit Scheren gespießt wurde, da dachte man, das kennt man doch schon, das war doch der Schnee von vorgestern.
Sehr schade, aber eindeutig abschwächend, denn die Texte von Jellinek sind nie immer nur individualistisch gemeint, auch wenn sie nur von sich spricht, allein ihre in dem Stück enthaltene großartige Medienkritik: „ Es sind Tonnen von Menschen, mit denen man in Kontakt steht“ , ihre Kritik am Abschieben der Alten in saubersatte Heimgefängnisse, großartig gespielt von Maria Schrader, aber zu lang ausgewalzt und zu naturalistisch konzipiert von der Regie, ebenso die gesamten Philosophien über die Zeit, deren Endlichkeit und das Eingesperrtsein, aus dem man hinaus strebt, all das verdient es, aufrüttelnd gegeben zu werden. Dies hier war mir zu zäh, zu plakativ, zu wenig abwechslungsreich.