Lieber heute aktiv als morgen radioaktiv – Buchrezension
jw Feuilleton / 22.3.12
Wer sehen will, wie wir in der BRD Revolution gemacht haben oder es zumindest versucht haben, sollte sich die beiden Teile von »Lieber heute aktiv als morgen radioaktiv« anschauen, gerade in der »Bibliothek des Widerstands« erschienen.
Denn wer von den Jüngeren bisher angenommen hat, dass es in den 1970er Jahren eine Mittelstands-Hausfrauen-Müsli-Flower-Power-Bewegung gegeben habe, die mit Protesten gegen Atomkraftwerke befasst war und die niemals soziale oder gar antikapitalistische Ziele verfolgt hätte, der oder die wird große Augen machen.
»Hinterwäldlerisch, fortschrittsfeindlich, naiv«, so charakterisierten die Lobbyisten der AKW-Konzerne und die von ihnen beeinflussten Politiker die »lieben« AKW-Gegner, die »bösen« waren »Chaoten«, »Spinner«, »angereiste Gewalttäter« und natürlich »Studenten, die nicht arbeiten wollen«. Dass eine solche Spaltung des Widerstands auf den Demonstrationen vor Ort nicht griff, dass es im Gegenteil zu einer ungeheuren Solidarität quer durch alle Schichten kam – das war das eigentlich Revolutionäre an diesem Kampf.
Ohne Agitation
Unabhängig und zunächst gänzlich unbemerkt von den kommunistischen Gruppen, die es damals zu Hauf gab und die sich Parteien nannten und die einen Großteil ihrer Zeit damit verbrachten, aufeinander loszugehen, formiert sich Anfang der 1970er Jahre im südwestlichen Zipfel der BRD eine nicht nur atomkritische, sondern eine unmerklich auch staats- und kapitalismuskritisch werrdende Volksbewegung. Ganz ohne Agitation und Propaganda vor den Uni- und Fabriktoren, mitten in der Provinz, im Weinanbaugebiet Wyhl am Kaiserstuhl.
Man sieht das im Film »S’Wespennäscht – Die Chronik von Wyhl 1972 bis 1982« von der Medienwerkstatt Freiburg. Da werden aus staatsgläubigen, CDU wählenden Weinbauern zornige Demonstranten. Zuerst erfahren sie von den Plänen, bei ihnen auf dem Land nicht nur ein neues Atomkraftwerk, sondern eine Art modernes Ruhrgebiet errichten zu wollen. Die Politiker erzählen ihnen etwas von Energieversorgung und Arbeitsplätzen, sie aber rechnen aus: Da entstehen keine Arbeitsplätze für uns, sondern da entsteht Technik, die Arbeitsplätze vernichtet. Noch dazu wird danach keiner mehr ihren Wein kaufen. Dann erkundigen sie sich: Das neue AKW ist ungleich stärker als die Hiroshima-Bombe, ginge es hoch, würden sofort Zehntausende sterben. Geht es nicht hoch, droht Leukämie. Zudem verheißt ein geplantes Bleiwerk weitere Erkrankungen. Also sammeln die Bauern Unterschriften dagegen und kommen in einem Dreivierteljahr in der Region auf 96000 Unterschriften. In den Gemeindevertretungen taucht eine neue Parole auf: »Wir lassen uns keinen Fortschritt der Selbstzerstörung aufdrängen!«
Unser Profit: Leukämie
Vor allen spektakulären Aktionen, vor den ersten Demos, vor der allerersten Bauplatzbesetzung, nehmen die Weinbauern zuerst die Demokratie ernst, sie machen Eingaben, stellen Anfragen und Anträge. Dazu müssen sie sich erst mal sachkundig machen. Sie lassen sich beraten von Ärzten und Physikern und kommen aus dem Wundern nicht mehr heraus. Denn je mehr sie sich informieren wollen, je mehr sie nachfragen, desto reservierter reagiert die CDU-Landesregierung unter Hans Filbinger. Dabei war das die Partei, der sie Jahrzehnte lang vertraut hatten. Und wenn ein Politiker aus Stuttgart sich herbei bequemt, dann werden die Vertreter der neugegründeten Bürgerinitiativen nicht eingelassen. »Was haben wir euch getan?« fragen sie. Doch die begreifen schnell, denn sie sind nicht dumm. »Unser Profit: Die Leukämie!«
Aus dem Staunen entwickelt sich Wut, es reift die Erkenntnis: Die Politiker sind gekauft, und die Atomindustrie ist ohne Skrupel. Und wer etwas dagegen hat, den sucht der Polizeistaat heim. Die Polizisten kommen mit Pferden und Hunden. Und Wasserwerfern. Die Menschen sind fassungslos. Ein Bauer ruft: »Den Baader müsste man holen, dann würden’s Rennen kriegen, die Megawattspinner!«
Eine Anwohnerin beschreibt, wie sie nachts mit 39 Grad Fieber im Bett liegt und unablässig Polizeisirenengroßfahrzeuge an ihrem Fenster Richtung Bauplatz vorbeirasen hört. In einem Gebiet, in dem es bislang nur zwei Polizisten gegeben habe. Da hält sie nichts mehr, berichtet sie, sie steht auf und kocht Kaffee, backt Kuchen und schleppt Brot und Suppe zu den Demonstranten. Überall kam die Unterstützung spontan zustande. Langsam werden sich die Einheimischen ihrer Kraft bewusst. Im Film sieht man die ersten Traktorendemos, selbstbewusst lachende Menschen auf ihnen. Plötzlich ist auch die Vorerfahrung präsent: »Wir haben nicht vergessen: DDT und Contagan«.
In Wyhl entfaltet sich für alle Beteiligten gleichermaßen überraschend ein revolutionäres Bewußtsein, wie man es seit 1848 unter deutschen Bauern in Deutschland nicht mehr gekannt hat. Interessanterweise wird einem das erst richtig durch den Abstand klar, wenn man sich heute diese Filme anschaut. Die Parolen, die Gesichter, die Lernprozesse der Bauern. Dazu die Schreie beim Abtransport vom Bauplatz, die schrecklichen Schreie, weil die Polizei mit Pferden über die Menschen trampelt, über die Sitzenden hinweg angreift. Sechs Polizisten auf eine Wehrlose, die an den Haaren vom Boden hochgerissen und meterweit geschleift wird. Wütende Prügelorgien, fassungsloses Schreien, entfesselte Staatsbeamte, eine Staates, der den Profit vor seinen Bürgern schützt und keine Gnade kennt.
Eines Tages wird der kleine Mann besser dastehen, als der höchste Mann in der Regierung
Aber, die Staatsmacht erreicht nichts, nicht zu diesem Zeitpunkt, alles prallt an den tapferen Winzern ab, wichtige Erkenntnisse wachsen: »Der Staat selber ist es, der Gewalt ausübt!« und: »Eines Tages wird der kleine Mann besser dastehen als der höchste Mann in der Regierung!« Und die »Zugereisten« verbrüdern sich mit den Bauern und helfen ihnen auf den Feldern und auf den Höfen. In »Lieber heute aktiv als morgen radioaktiv«, dem bekanntesten Film über diese Zeit (von Nina Gladitz, 1976) wird unterbrochen gesungen. Mit Freude erkenne ich den damals von uns allen hoch verehrten Liedermacher Walter Mossmann. Auch eine revolutionäre Kultur ist also geschaffen worden.
Wie man mit einer einzigen Axt ganze Häuser baut
Es kommen Intellektuelle und Studenten, Lehrer und Wissenschaftler, Pfarrer und Ärzte, die merken, daß man ihnen in ihren Schulen und Universitäten zu wenig beigebracht hat. Sie lernen nun beispielsweise, wie man mit einer einzigen kleinen Handeisensäge aus dem Baumarkt und der Muskelkraft von vielen einen Bauzaun zu Fall bringen kann. Oder wie man mit einer einzigen Axt ganze Häuser baut. Eine eigene Volkshochschule wird auch bald gegründet. Und dann der Sieg: Wyhl ist nicht durchsetzbar. Eine grandiose Erfahrung: Man muß nur zusammenhalten.
Sofort hart zuschlagen
Auch vom 1976 einsetzenden Widerstand gegen das AKW Brokdorf gibt es tolle Filmaufnahmen von all den Szenen, die so viele Linke meiner Altersgruppe leibhaftig miterlebt haben: die endlosen Fußmärsche, weil alle Straßen abgesperrt waren, die unglaublich brutalen Polizisten, die keine Menschen in uns sehen. Doch unsere Menge dagegen, und keine Angst.
Der Atomstaat hatte auch gelernt: Sofort hart zuschlagen
Der »Atomstaat« (Robert Jungk) hatte auch etwas gelernt und das hieß: sofort hart zuschlagen. Und wieder versuchen, einen Keil zu treiben zwischen die angeblichen Gewalttäter und die Lokalbevölkerung. Was abermals nicht gelang, die Ortsansässigen verbanden sich mit den »Studenten«. 1981 kam es in der Wilstermarsch zur bis dato größten Demo gegen die Atomindustrie, 100000 Demonstranten standen 10000 Polizisten gegenüber. Es kam zu tumultartigen Szenen.
Noch sind wir ruhig
Ebenso 1986 in Wackersdorf, Oberpfalz. Eine Frau empört sich vor laufender Kamera: »Ein Politiker der CDU hat gesagt, daß man die WAA (Wiederaufbereitungsanlage) nur in der Oberpfalz bauen könne, das heißt ja nichts anderes, als daß die Oberpfälzer die größten Deppen von Deutschland wären. Das der sich man nicht täuscht!« Ein anderer ergänzt: »Noch sind wir ruhig!« Ein Arzt sagt, im Hintergrund Schrankwand und Hirschgeweih: »Wir müssen uns jetzt wehren, nicht erst in zehn Jahren, wenn das Ding gebaut ist, da ist es zu spät«. Ein Bauer meint: »Wir haben gelernt, auch mit anderen Sachen nicht mehr zufrieden zu sein, wir haben erkannt, daß die Politiker uns belügen und betrügen«. Und: »Krieg ist der Zweck vom Ganzen! Aber wir wollen Mensch sein und Mensch bleiben!«
Vor Ort Knüppel
Gegen diese Kraft der Menschen und gegen alle diese Bewegungen, die die BRD von Süden bis Norden und wieder zurück erschütterten, wurde eine ungeheure Repressionsmaschinerie in Gang gesetzt. Vor Ort gab es Knüppel, in den Medien – allen voran die Springerpresse – Denunziation und für die Führer der Bewegung lukrative Posten. Aber erst, als die erste Welle der Bewegung abebbte. Der Anti-AKW-Protest machte die Grünen groß, und als sie endlich in der Bundesregierung saßen, versuchten sie die Bewegung klein zu machen – Es gelingt aber nicht, Jürgen Tittins »Atomausstieg« empfanden viele als Witz. Sein Opportunismus ist durchschaubar und auch die Stuttgart 21 – Bewegung gibt nicht auf, nur weil die Grünen den Schwanz einziehen.
Grohnde wurde gebaut – Wackersdorf nicht
Brokdorf wurde gebaut, Grohnde wurde gebaut – aber Wackersdorf nicht. Ursprünglich sollten in der BRD 99 Atomkraftwerke gebaut werden. Dieses Programm konnte deutlich reduziert werden. Unberechenbar sei die Bewegung gewesen, schreibt Reimar Paul, auch für sie selbst – ein Lehrstück dafür, dass sich revolutionäre Bewegungen am allerwenigsten voraussagen lassen, da es ihr Wesen ist, dass sie sich sprunghaft entwickeln.
»Lieber heute aktiv als morgen radioakativ«, Teil 1 und Teil 2, Bibliothek des Widerstands Band 18 und 19, Laika Verlag, Hamburg 2011 und 2012, insgesamt 8 DVDs, je Band 29,90 Euro