Glückskind in Rostock, eine überragende Inszenierung!
Das Stück „Glückskind“, momentan gespielt im Rostocker Theater, das einen ungeheuren Auftrieb durch Sewan Latchinian bekommen hat, ist eine Romanadaptation des gleichnamigen Buches von Steven Uhly. Es handelt von einem Kind, dass von einer jungen Mutter in einer Plattensiedlung in eine Mülltonne geworfen wird. Dort findet es, noch lebend, der im Alkohol versunkende Hartz-VI er Hans, (sehr echt, sehr treffgenau, sehr berührend gespielt von Alexander Wulke). Er nimmt es an sich, nachdem er es angeschaut hat. Wie Grusche aus dem Kreidekreis kann er es nicht mehr liegen lassen, als er es einmal angeschaut hat. Das wird sehr berührend gestaltet: Erst lässt er den Deckel des Mülleimers wieder zufallen, geht weg, erstarrt, geht wieder zurück und rollt die Mülltonne hin und her wie eine Wiege. Dabei versinkt auch er in einem seltsamen Zustand von Lethargie. Das Schreien des Babys, wie bekommt man es weg, wie beruhigt man? Dann entschließt er sich in einer einzigen Bewegung das Bündel aus der Tonne und an sich zu nehmen. Es ist keine Puppe, ist nur ein Bündel, ein alter Pullover, zusammengeknüllt, das Publikum hält es aber für ein lebendes Wesen. Der arme Hans nennt das Kind Felicia: Die Glückliche. Auf seinem Gesicht sieht man, dass sie zuallererst ihn glücklich gemacht hat, denn sie hat sich von ihm trösten lassen. Durch ihn, der bisher nichts war und nichts galt. Sein Weg von einem sich in Hoffnungslosigkeit völlig ergebenden Menschen zu einem, der Verantwortung für ein Hilfloses übernimmt, wird minutiös aufgezeichnet und führt dazu, dass der Mann langsam wieder Teil der Welt wird, die ihn umgibt. Mehrsträngig werden soziale Schicksale anskizziert, die hochaktuell sind. Das hat fast dokumentarischen Charakter, verliert sich aber nie darin, bleibt doch auch spannendes Spiel. Dabei werden die Motive aller vorkommenden Personen mit großem sozialpsychologischen Geschick entfaltet, die Dialoge sind treffend und in allen Figuren gelingt der Regisseurin allgemein Typisches ohne zu vergröbern. Eine wunderschön ausgestaltete Tragikkomödie mit gut verdichteter Dramaturgie und sehr reduziertem Bühnenbild (gut aufs Wesentliche konzentriert: Mülleimer, verranzte Stehlampe, Plastikmüll und -tüten).
Das Stück mit allen Figuren wird von nur zwei Personen gespielt, die zweite ist Sabrina Frank, äußerst wandlungsfähig und besonders, denn sie spielt sämtliche anderen Rollen des Stückes, ist also immer der Gegenpart der Hauptperson, der immer der Ziehvater des Müllkindes bleibt. An ihm wird Entwicklung demonstriert, an Ihr, wie sich seine Entwicklung in den konkrete Beziehungen auswirkt. Die Frau spielt mal die Ärztin, die die Untersuchung des gefundenen Kindchens deckt, mal der Kioskbesitzer an der Ecke, der eine neue Art von Solidarität wiedrentdeckt, dann Frau Karsi, eine Ausländerin, die den Vater in die Kinderbetreuung einweist, Eva, seine frühere Frau, voller Vorwürfe gegen ihn, die allesamt äußerst nachvollziehbar und berechtigt erscheinen, einen Kommissar, der der Sache auf den Grund gehen will und Veronika Kelber, die Mutter des weggeworfenen Kindes, die sich in Brausepulverspielen verliert und deren Lage sehr differenziert geschildert wird. Sabrina Franks Wechselspiele reizen zum Lachen und sind überaus virtuos.
Die Regisseurin Nicole Oder ist dieselbe, die für das kabarettistische Lustspiel Arabqueen im Neuköllner Heimathafen verantwortlich ist, seit Jahren läuft dort diese einmalige Sozialkomödie im ausverkauften Haus. Für ihren Stil ist kennzeichnend, dass sie die soziale Wirklichkeit punktgenau trifft und dabei Ernst und Komik auf eine erkenntniserhellende Art miteinander verbindet. Das Stück ist absolut sehenswert!