Der Parasit im Burgtheater Rezension
Ins Wiener Burgtheater geht man nicht, man wird hinein geleitet, noch bis zu den Plätzen wird man über ausladend-einladend rotsamtene Aufgänge von jungen Frauen mit Programmheften hingeführt. Das Haus großzügig, prunkvoll, verwirrend, drinnen wohlhabendes Bürgertum, steif, juwelengeschmückt, schreitet, flaniert, legt die Pelze ab, trifft sich, kennt sich. Geschminkte Alte, vornehm duftend, sagen sich Komplimente: „ Sie waren großartig gestern Abend, meine Liebe!“ Gegeben wird: “Der Parasit” vom französischen Lustspieldichter Louis-Benoit Picard, in der Überarbeitung von Friedrich Schiller, inszeniert von Mattthias Hartmann.
Dieser macht sich, bevor es losgeht zum Horst. Vor Aufführungsbeginn betritt er die Bühne, um einen völlig überflüssigen Witz über einen Hamster zu skandieren, der in der Tasche eines Bären zu einer Briefmarke zerdrückt wird. Ob er damit sich selbst gemeint hat, der sich solchermaßen abhängig von der glitzernden Publikumsmeinung sieht, bleibt unklar, einem Revolutionsstück gebührt jedoch eine andere Ansprache vor so erlauchtem Publikum. Aber heute ist man scheint´s gekommen um über sich selbst zu lachen. Das Stück besteht im Wesentlichen aus vier Hauptfiguren: Einem gütigen, aber braven und arbeitssamen Beamten, Firmin, hier bestens gegeben von Johann Adam Oest, der das Stück fast ganz mit seinen dunklen Augenbrauen spielt, dann dem wütend-aufbrausenden La Roche im blauseidenen Anzug, er scheint Schlimmes erlebt zu haben mit der Lichtgestalt Selicour, denn er trachtet wütend danach, den Lügner zu entlarven, er ist die revolutionäre Einführung eines Gegenspielers des Intriganten. Dann Narbonne, der etwas täppische Minister, dessen halbdeppicher Blick köstlich von Udo Samel durch seine Kurzsichtigenbrille geworfen wird, und schließlich Selicour, der Jago der Neuzeit, aus jedem mittleren Büro bekannt, in jeder Partei vorhanden, in jedem Konzern in Massenausfertigung produziert, auch in der Theaterlandschaft vorhanden, ein Anpassler, ein Aufsteiger, ein Speichellecker, hier gespielt von Michael Mertens, dem die Rolle wie auf den Leib geschnitten ist.
Was für verstiegen einknickende Gesten, um das Kriecherische deutlich zu machen – Das Publikum biegt sich vor Lachen
Seine Gesten passen sämtlich alle, sein falsches Lachen, sein Räuspern, seine schlangenartige Geschmeidigkeit, genau richtig eingesetzt, was findet er nicht für verstiegen einknickende Gesten um das Kriecherische deutlich zu machen, das Publikum biegt sich vor Lachen. Man sieht förmlich Herrn Grünlich aus den Buddenbrooks vor sich. Der blieb ohne Gegenspieler, hier wird er, im Spannungsfeld von Wut und Unterordnung, einem entlarvenden Kampfspiel ausgesetzt. Mit überraschendem Ausgang übrigens, aber dazu später. Die Bühne besteht schlicht aus einer riesigen, weißen Leporellowand, die man vor und zurückziehen kann, in die pro Spieler überdimensionierte Türumrisse geschnitten sind, durch die diese auf- und ab gehen, sie sind in den Größen den gesellschaftlichen Stellungen ihrer Protagonisten angepasst, bilden die Hierarchie ab, die hier hinter allem liegt und kritisiert werden soll.
Das Stück zieht Kraft aus der Echtheit der Dialoge, dem Witz der Ohnmacht, der entfesselnden Wut des Gegenspielers
Im Wesentlichen spannt sich nun die Handlung zwischen diesen Personen aus, wobei sich Selicour mit den Arbeitsergebnissen des bescheidenen Firmin schmückt, der Großmutter schmeichelt um Posten samt Enkelin zu bekommen, dem Minister zum Munde redet, alle anderen dabei schlecht machend und nach unten den Autoritär-dünkelhaften gibt. Klingt klischeehaft, zieht aber Kraft aus der Echtheit seiner entlarvenden Dialoge und dem Witz der Ohnmacht, Ungeschicklichkeit und entfesselnden Wut des Gegenspielers La Roche. Glänzend gespielt! Nicht einer der Spieler, der nicht als Typ genau seine Rolle trifft, und noch etwas: Man wähnt sich in einem zeitgenössischen Stück, nichts, aber auch gar nichts erinnert an Schiller. Er hat offenbar nicht sich, sondern den Revolutions-Picard auf die Bühne bringen wollen, und da er die Verse in Prosa umgeformt hat, die keinen Hauch von seiner sonstigen Getragenheit haben, glaubt man, das Stück sei eben hier und jetzt geschrieben worden. Mag sein, es liegt am Hamsterregisseur, mag sein, es liegt an der Professionalität der Akteure, jedenfalls ist es wahr und echt und daher unterhaltsam und erhellend. Das Publikum erkennt sich selbst und muss lachen.
Das Gespinst der Lüge umstrickt den Besten, Gerechtigkeit gibt es nur auf der Bühne
Der Schluss birgt eine besondere Überraschung, ein kleines Filetstück dialektischer Theaterkunst, der Schuft wurde entlarvt, das Happy End stellt sich ein, das Publikum atmet auf, Beifall brandet, da tritt das Ensemble noch einmal auf die Bühne, die letzte Szene beginnt erneut. Nicht der bescheidene Firmin ist nun der Sieger, bekommt den Senatorenposten, nein, er wird in seine Schranken, symbolisiert durch die ihm zugehörende kleinste der Türen, gewiesen, da er sich nicht, wie der Minister ihm kalt sagt, von selbst “ihm angeboten” habe, ähnlich denen, die heute nicht in drei Minuten ihre privaten Profilkonzeptionen samt Selbstwertfahne herunterspulen und La Roche ist stattdessen Sieger und tritt sofort den Weg seines Gegners an. Aber noch einmal beginnt die Szene, diesmal ist Firmin ängstlich, er kneift zu Beginn, verpatzt die Entlarvung des Selicour aus Feigheit und Selicour selbst bleibt Sieger. Der Schiller´sche Mahnungssatz: „ Das Gespinst der Lüge umstrickt den Besten, der Redliche kann nicht durchdringen, die kriecherische Mittelmäßigkeit kommt weiter als das geflügelte Talent, der Schein regiert die Welt und die Gerechtigkeit ist nur auf der Bühne.“ nach jeder dieser letzten Szenenvarianten dem Publikum entgegengerufen, stimmt jedes Mal auf erschreckend immer andere Weise, bis nach der dritten Variante ein Bühnenarbeiter die Türen zusammenschiebt und lakonisch dem entgegensetzt: „Oder nicht“ mit Ausrufezeichen gesprochen. Absolut gelungen! Ein revolutionäres Stück von 1799/1805 hat es ins bürgerliche Burgtheater geschafft, gleich neben dem Heldenplatz. Hingehen!