Immer noch Sturm – Handke im Thalia – Rezension

„Immer noch Sturm“, das neueste Stück von Peter Handke war auf den Salzburger Festspielen zu sehen und hatte jetzt in Hamburg im Thalia Premiere, es handelt von einer Auseinandersetzung Handkes mit seinen Vorfahren, die in einem kleinen Bergtal als slovenische Minderheit lebten. 

Das Stück erzählt das Leben der Familie ab 1936 bis zu ihrer fast völligen Auflösung.  „Sturm“ ist hier als Metapher für Wut, für die Notwendigkeit von Gegenwehr gegen Diskriminierung, Unterdrückung und Vernichtung gesetzt, zu der sich einige der Familienmitglieder am Ende endlich entschlossen, aber auch für die Geschichte, die wie ein Sturm über diese Familie hinweg fegte und sie in den Abgrund riss.  Mit Dimiter Gottscheff hat er einen außergewöhnlichen Regisseur gefunden, der sich nicht dem Mainstream beugt und auf Intensität der Figuren, anstatt auf plakative Wirkung setzt. Noch dazu kommt auch dieser aus dem osteuropäischen Raum, Bulgarien, ebenfalls also ein osteuropischer Grenzgänger, wie Handke selbst.

Das Premierenpublikum in Hamburg kennt sich, grüßt sich, schüttelt Hände. Die Bühne ist schwarz.

Langsam stolpert ein Mann am Stock, aus dem Dunkel des Hintergrundes auf die mit Punktlicht erleuchtete Bühne. Es handelt sich um die Hauptperson, im Programmheft ausgewiesen als „Das ICH“ , ein Handke-Imago, schüchtern, etwas umständlich sprechend, verhalten, der Erzähler. Er stellt die Personen des Stücks vor und führt das Stück durch den Abend.  Eine Gruppe von Personen kommt  ebenfalls aus dem schwarzen Hintergrund hervor und stellt sich in einer Reihe auf. Der Erzähler:  „ Ich könnte ohne Probleme den schon betagten Vater meiner Mutter geben.“ Zu allen:“ Es lässt mich nicht in Ruhe, nicht ich lasse euch nicht in Ruhe, es lässt mich nicht in Ruhe, ihr lasst mich nicht in Ruhe“ Er begrüßt alle mit „Dobre dan“  Als erstes spricht er seine Mutter an: „Hilf mir, wo sind wir denn hier eigentlich? Ist das die Heide, die Steppe, die Tundra?“ Die Mutter:“ Auch ich habe dich nicht sofort erkannt, Vaterloser, Du, der du nie dazu gehört hast“ Seine noch jugendliche Mutter im lockeren Kleid, noch vor seiner Geburt, wie sich herausstellt, ihr Bruder Valentin, einen Amerika – und Swing-Liebhaber, ihren Bruder Gregor, ein Experte in der Apfelbaumzucht, ihren jüngsten Bruder, ein groß gewordenes Kind, Benjamin, der später als allererstes in Russland stirbt, wo er am liebsten mit Mädchen tanzte. Ihr Vater, ein slovenisch sprechender Bauer und ihre Mutter, eine Bäuerin mit umgebundenen Melkschemel  sind zunächst still, gewinnen aber immer mehr an Charakter, Lebendigkeit. Dazu die ungeliebte Schwester Ursula, die oft etwas grimmig ist, scheint eifersüchtig auf die hübschere Schwester, die Mutter Handkes, die für sie nur ein Auslachen übrig hat.

Nachdem der Erzähler sich ein wenig warm erzählt hat mit seinen Vorfahren, lässt er den Stock fallen und wird zu einem schlichten jungen Mann, der sich links an den Bühnenrand setzt und manchmal erstaunt, manchmal liebevoll auf seine Figuren schaut, zu denen er auch manchmal hingeht, sie  berührt und sich zwischen ihnen hin- und her bewegt, als sei er der Tote, der ihrem Leben aus einer fernen Welt zuschaut, wie in Sartres Erzählung „Das Spiel ist aus“.  Hier wandelt aber der Lebende zwischen den Toten, ist selbst mal alt, mal jung, schaut den längst Gestorbenen zu und haucht ihnen Leben ein, indem er sie in ein Spiel reinbringt wie ein Regisseur seine Schauspieltruppe, mal dirigiert er sie, mal „hält er sie an“ und monologisiert. Eine interessante Idee für eine Annäherung an seine Verwandten aus früheren Zeiten.  

Spielen tut die Szene im Jaunfeld, einem Kärntener Tal, nahe der slovenischen Grenze, wo die Familie auf dem großväterlichen Hof lebt und die junge Frau gerne tanzt und lacht und später von einem Reichsdeutschen schwanger wird, was als Verrat erlebt wird. Der Vater will nicht, dass die Familie das slovenische Erbe, die Sprache vergisst. Die Mutter: „Keiner hat so gesprochen wie wir, `gebräutelt´ haben wir gesagt”. Die Forderungen der Österreicher erinnern an die neuesten Integrationsthesen („Lern erstmal deutsch!“), die jungen Leute in der Familie integrieren sich schneller und können mit der Herkunft nicht mehr viel anfangen. Alltagserlebnisse, tägliche kleine Diskriminierungen, dann, während das Baby im Bauch der Mutter wächst, greift der Krieg nach den Söhnen, sie werden zwangsrekrutiert, den einen verschlägt es nach Holland, den nächsten nach Norwegen, der letzte kommt nach Russland, die Mutter liest Handke deren Feldpostbriefe vor, er kniet zu ihren Füßen hin, wird dabei zum Kind, dem vorgelesen wird: „ Immer hat mir meine Mutter diese Briefe vorgelesen“, sie liest einen Satz:  „Gruß aus Holland, endlich einmal keine Berge! Gruß aus Russland: „Am liebsten würde ich alles verkehrt machen!“ Und: „Wie langweilig ist der Krieg, wie viel Sinnvolles könnte zuhause getan werden, das auch dem Land sehr viel nützlicher sein würde.“

Die Kunst hier ist, die Geschichte der Familie wie ein Spiel im Spiel zu zeigen, die Personen, die sich in der geistigen Vorstellung Handkes, der sie sich rekonstruieren muss, da er sie nicht mehr kennengelernt hat, entwickeln sich allmählich, entfalten immer mehr Eigenleben, weshalb das Stück immer intensiver wird, es ist als schälten sich die Familienmitglieder aus ihren Zeithäutungen heraus und kämen einem immer näher. 

Eine treffend schöne und eindringliche Sprache, intensive Darstellung und ein immer dramatischer werdendes Spiel. Die Art des erzählenden Entwickelns der Figuren in der Draufsicht des Erzähler-Ichs, das immer den Abstand wieder künstlich herstellt zwischen sich und dieser anderen Welt, führt zu einer immer intensiveren Heraushebung der Einzelnen.

Dann geht es Schlag auf Schlag, Telegramme treffen ein: „Für Volk und Führer..“, die Söhne sterben, die Eltern verzweifeln, der Vater verflucht die ungeborene Leibesfrucht im Bauch der Mutter, verflucht das Kleinkind, weil es von einem Reichsdeutschen abstammt, einem aus der Mördertruppe in der ´Mörderzeit`, er brüllt den Erzähler wütend an: „Wie der Vater, so der Sohn!“

Großartig ist die Trauer der Großmutter gestaltet, die am Anfang nur eine alte Frau auf einem Melkschemel ist und nachher ein grandioses Wut-und Widerstands-Finale in einem großen Tanz gibt. Ihre Trauer und ihr Schmerz…

Das Stück nimmt  Partei für die Schwachen, eine vergessene Gruppe von Menschen, die „ewig passiv“ blieben, Landvolk mit dem „Blick nach unten“, der sich erst dann zu heben wagt, als ihnen das erste Kind gemordet wurde. Landvolkleute, die wegen ihrer Sprache und des abgelegenen Wohnorts von den Österreichern, erst recht von den einrückenden Reichsdeuten,  als „Untermenschen“ verlacht, getreten, gedemütigt und bestraft werden.

Doch es passiert, sie wehren sich, sie gehen „in die Berge“, der Partisanenkampf beginnt, zwei ihrer Kinder, Gregor, der desertiert ist und die ungeliebte Ursula, entschließen sich „in die Berge“ zu gehen.  Dort ist das Leben hart und der Feind übermächtig.

Der Großvater tobt nach dem Tod vom vierten seiner Kinder, er verflucht die Deutschen und damit den Enkel: „ Das die Deutschländer alle das Scheitern hole! Nie wieder einen Deutschen sehen, nie wieder jemanden deutsch sprechen hören, deutsch, mit seinem Trommelstoßbrüllen, in der Luft zerrissen sollen die Deutschen werden, in den Feuersturm mit ihren Schatten, ihren Letzten!“ Und dann, im Hinblick auf seine einzige überlebende Tochter, die mit diesem „Feind“ auch noch ein Kind gezeugt hat, nämlich Handke: „Verflucht sei der Liebeswurm in deinem Bauch!“ Doch die Mutter verteidigt sich und ihr Kind: „Es war Liebe!“ 

Sehr viele Details sind eingeflochten, wer kannte sich schon aus bei den Partisanenkämpfen in Kärnten, von unterirdischen Verließen der Nazis, in die jene die Partisanen steckten, wenn sie ihrer habhaft wurden, dort stickten die gefangenen und gefolterten Todeskandidaten blind „Sticktüchlein“, der Großvater zeigt im Spiel so ein Tüchlein, die Tochter Ursula stickte es, da sie niemanden verraten wollte, und das auch nicht tat, und deshalb dort eingesperrt wurde, bis auch sie starb.  Vorher hatte diese den Eltern noch erzählt, dass der einäugige Bruder Gregor, der früher nur ein Apfelzüchter war,  bei den Partisanen ein  grausamer, kalter und ungerechter Führer geworden ist. Erneut Schmerz, Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung.  

Und doch, die Großmutter, die selbst nicht mehr kann, schickt den vor Schwäche zitternden Sohn, als dieser bei ihr Zuflucht sucht, wieder zurück „in den Schnee“, er soll weiterkämpfen in seinen Bergen, er soll durchhalten, sich widersetzen, er der einzige Sohn, den sie noch hat, er soll kämpfen, für die Schwachen, für die Gerechtigkeit. Die Großmutter, die ewig duldende, kann nicht mehr weiter erdulden was ihre Leute Jahrhundertelang trugen. 

„Mein ganzes Leben bin ich im Ascheregen gegangen, von Insel zu Insel – Es ist immer noch Sturm – Es ist immer noch Sturm!!!“ (Handke im Schlussmonolog).  Soviel ist sicher, Krieg kommt auch in das allerkleinste Tal.     

Dramaturgisch könnte es an einigen Stellen gestrafft werden, besonders der Schlussmonolog ist zu lang, die letzte Szene hätte unbedingt der Tanz der Großmutter sein sollen, trotzdem: Ein gutes Stück, sensibel und stark inszeniert, mit Schauspielern, die allesamt überragend gespielt haben, am besten Gabriela Maria Schmeide als Großmutter, sie macht als Figur die stärkste Entwicklung durch und gibt dies ungeheuer überzeugend. Aber auch Oda Thormeyer, die Mutter, wie sie die „Auslachszene“ gibt, einzigartig, ebenso Tilo Werner und Hans Löw als die beiden so unterschiedlichen Brüder, alle haben sie ihr Solo, Bibiana Beglau als ungeliebte Ursula zeigt in Körperhaltung, Blicken, Bewegung und  Haltung eine Art Entpuppung zur Würde, ihre zweite, weil eigene Geburt, als sie zu den Partisanen geht. Auch der Zorn des Großvaters, der schließlich den Baum ausreißt, von dem die ganze Zeit über  die Blätter auf die Darsteller herab rieselten, die den Ablauf der Zeit symbolisieren, eine starke Sequenz. Gutes Stück, eindrucksvolles Ensemble, ein Aufschrei gegen Krieg und Unterdrückung, ein Denkmal für die Tapferkeit der Verzweifelten.