NIE-Company mit zwei Stücken im Grips

Zwei Stücke führte die international auftretende Compagnie am Mittwoch und Donnerstag in Berlin im Podewil, vom Grips-Theater eingeladen, auf, beide handeln von der Verarbeitung der Nazizeit durch Kinder.

Kinder sind heute die letzten noch lebenden Zeitzeugen, die Gestaltung ihrer Erlebnisse haben sich die Theaterleute aus Norwegen, Tschechien und England in diesen beiden Stücken zum Ziel gesetzt. Das war nicht einfach, denn wie sollen die Gefühle dem Publikum aushaltbar, aber doch in keiner Weise heruntergespielt werden?

My long Journey Home

Es handelt sich erstens um „My long Journey Home“, wo das Schicksal eines im Krieg verlorengegangen ungarischen Jungen geschildert wird, der 53 Jahre in einer Psychiatrie in Sibirien verbrachte und „End of Everything Ever“, in dessen Mittelpunkt ebenfalls ein Kind steht, Agate, Kind einer von Deportation bedrohten Familie, die zur Rettung allein auf einen Kindertransport geschickt wird. 

Vom ersten Stück sah ich in einer Vorprobe leider nur den Schlussakt, in diesem saß das herangewachsene, aber seelisch gleichsam geschrumpfte Kind als erwachsener Mensch in einer Marat´schen Badewanne auf Kleinformat und wurde von wärterähnlichen Männern unter einem riesigen weißen Tuch, das die halbe Bühne einnahm und wo nur der Kopf heraussah, mühsam bezwungen, darunter begraben, damit gefesselt. Ein wirkungsvolles Bild, um die Allgewalt der psychiatrischen Behandlung zu symbolisieren. Auch hier schon: Komödiantisches, das ernste Szenen erkenntnisfördernd brach, indem es die Protagonisten aus der Hilflosigkeit treten ließ, Gesang, der vom Spiel distanzierte und es kommentierend unterstrich, Personen, die erzählend aus dem Geschehen heraustreten und damit das Beispielhafte verdeutlichen, sowie aufs Wesentliche reduzierte Requisite, in diesem Fall ein weißes Tuch.

End of Everything Ever

Das zweite Stück verblüffte mich außerordentlich. Normalerweise sitze ich in einem Theaterstück und schaue auf die Bühne, dann auf meinen Block, wo ich mitschreibe, dann wieder auf die Bühne und so fort. Nicht so diesmal: Von der ersten Minute an, war ich gebannt durch die Vielfalt der Mimik und Gestik und des eigenwilligen, an die Moliere-Truppe erinnernden Ausdrucks, und so gelang es mir nicht, einen einzigen Satz zu Papier zu bringen.

Eine fahrende Musiktruppe mit Gitarren und Akkordeon holt das Publikum ab

Inhalt des zweiten Stückes: Die Problematik der Kindertransporte während der Nazi-Zeit, aus Sicht eines 6-jährigen Mädchens, die einzig in ihrem Stoffteddybären einen verlässlichen Partner findet, mit dem sie alles besprechen kann, während sie für immer allein gelassen in die Freiheit des Überlebens fährt. Das Stück hatte nichts Rührseliges und war doch ungeheuer bewegend, es hatte nichts Komödiantisches und war doch voller Witz, es war entlarvend, voller Wahrheit, in jedem Moment vieldimensional und absolut gekonnt gespielt. Es enthielt dabei zahllose Elemente des Theateransatzes von Auguste Boal, der unmittelbarer als jedes bürgerliche Regietheater an Brecht anknüpft: Sein Theater der Unterdrückten bringt immer eine Distanz zwischen Figuren und Spielern deutlich zum Ausdruck, hier dadurch, dass die Erzählerin, das Mädchen Agate mit dem Stofftierbären Milos, Iva Moberg (Prag und Norwegen) erst aus einem Schrank heraus klettert und dann die kleine Gruppe von Spielern, die vorher als fahrende Musiktruppe die Zuschauer aus dem Vorraum abholten, Slivowitz anboten, nacheinander als Mitspieler erst auswählt, dann vorstellt. Das wird sehr gut dadurch zum Ausdruck gebracht, dass das Mädchen als Agierende und Erzählende laut beschreibend, deren Eigenarten bestimmt  und die Spieler selbst darüber erstaunt die Köpfe schütteln.

Abstand durch Übertreibung

Und während die Spieler ihre Figuren durch Übertreibung jeweils ein wenig karikieren, bleibt das Mädchen allein auf der Ebene der Wirklichkeit des unmittelbaren Ausdrucks, so dass die Zuschauer, während sie durch das Stück führt, bei ihr bleiben, in ihr Erleben und ihre Welt eintauchen und aber doch außen bleiben, als staunend Zusehende und –hörende, während sich vor ihnen eine Epoche der jüngsten Zeitgeschichte abspielt, die ihnen Erkenntnisse vermittelt, die ihnen zu denken geben werden.

Das Leben des Kindes: Atemberaubend  

Die Hauptdarstellerin gehört zu den seltenen Schauspielern, die es vermögen ein Kind sehr echt darzustellen, sie schafft dies durch eine Mischung aus ängstlich-misstrauischer Mimik und einem strahlenden, sich quasi immerzu selbst tröstenden wunderbaren Lachen. Wir gehen dadurch mit ihr wie ins Innere ihrer Persönlichkeit. Das Leben des Kindes vor und nach der “Reise” und währenddessen läuft so in atemberaubender Schnelligkeit vor einem ab. Man ist wie gebannt durch die Mimik der Hauptdarstellerin, in der sich alles spiegelt, was das Kind durchlebt. In einer der ersten Szenen beschreibt zB die 6-Jährige, dass sie durchaus weiß, wer Hitler ist und sie karrikiert auf einzigartige Weise die hausdurchsuchenden Soldaten, vor denen sich der Rest der Familie im Schrank, unter zersägten Brettern versteckt. Diese Szene bleibt völlig auf der Erlebensebene des Kindes und sagt uns soviel darüber, wie wach Kinder ihre Umwelt wahrnehmen können.

Die Verlorenheit des Kindes wird durch den Stoffbären gebrochen

Die Einsamkeit des Kindes wäre nicht darstellbar gewesen, hätte es den Stoffbär nicht gegeben, der gleichzeitig Trost und Zuflucht ist, sowie alle nach außen verlegten Wünsche und Emotionen des Kindes zeigt, ihre Verlorenheit wird hier gleichzeitig deutlich und gebrochen, eine gute Idee.   Die Verzweiflung der Eltern und Angehörigen wäre nicht darstellbar gewesen, hätte es die komödiantische Übertreibung nicht gegeben, die sie in einen Abstand zur Hauptgeschichte bringt.

Die letzten Überlebenden

Inhaltlich erinnert die Geschichte an „Kindheit“ von Peggy Parnass, es nimmt die Geschichten derjenigen in den Blick, die heute die letzten Überlebenden der Nazi-Verbrechen sind, die Kinder. Und damit stellen sie gleichzeitig diejenige Gruppe dar, die die schlimmsten innerseelischen Folgen davon getragen haben. Eines von ihnen sprach letztens in Moabit vor dem Mahnmal, es war heute ein weißhaarig betagter, aber doch auch noch rüstiger älterer Mann, Horst Selbiger, Voritzender der “Childs of Survivors”:  Nie, niemals dürfen wir vergessen, was war! Vielleicht heißt darum die Truppe „ NIE“ ? Eine Abkürzung für New International Encounter, schon in 2000 Aufführungen hat die Truppe NIE in über 1000 Orten der Welt ihre Stücke gespielt, die immer Geschichte in den Blick nehmen. Internationale Erzähler, das wollen sie sein und in die Welt die Botschaft tragen, über das, was war, was sein kann und was ist.

Eine tolle Entdeckung

Stefan FischerFels sah sie in Japan und engagierte sie unmittelbar für Berlin, Danke! Im nächsten Frühjahr werden sie in Stuttgart zum Festival „Schöne Aussicht“, am 17./18.Mai 2014 in Deutschland zu sehen sein: Hinfahren! Lohnt sich, ein modernes Shakespeare-Moliere-Gemisch, frei nach Auguste Boal.

Weiteres hier: www.nie-theatre.com/

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