Ohne Moos nix los – Rezension
3.11.10 / Feuilleton junge welt
Das Gripstheater hat sich dem Thema der Prekarisierung angenommen und das ohne Klischees mit dem Stück: ohne Moos nix los, von Jörg Isermeyer (Kindertheaterpreis 2009). Zur Zeit läuft es im Berliner Grips Theater (das diesen Preis mit gestiftet hat) in der Inszenierung von Yüksel Yolcu.
Das Bühnenbild überrascht als Breitwandkino: eine Großstadtsilhouette, über der die Sonne aufgeht, dann schnelle, sich überschlagende Bilder von rasenden Menschen auf Straßen, U-Bahntreppen, Kreuzungen. Nach einer Weile wird ein Mädchen sichtbar, die einem Mann mit Angelzeug hinterherschleicht. Danach marschieren beide aus dem Film direkt auf die leere Bühne, deren einziges Mobiliar aus zwei beweglichen Metallgerüsten besteht, auf denen die Hauptperson sitzt, turnt, sich langweilt, singt und traurig ist. Am Anfang ist sie allerdings noch witzig und ideenreich, denn Grips wäre nicht das Grips, wenn es nur naturalistisch abbilden würde. Es erfindet nämlich Möglichkeiten, in diesem Fall denkt sich ein Mädchen, das viel auf der Straße ist, phantasievolle Geschichten aus – über irgendwelche fremden Menschen, die sie geschickt beschattet, anstatt in die Schule zu gehen.
Keine Opfergeschichte
Die eigene Produktivkraft des Kindes wird betont. Das zieht sich durchs ganze Stück und macht Mut, das ist keine Opfergeschichte. Trotzdem kriegt man was mit. Über das Leben der elfjährigen Jule (Katja Hiller) und des 16jährigen Tim (Sebastian Achilles), die bei ihrer alleinerziehenden Mutter leben, die sich durchs Leben kämpft und dabei ihre Kinder ein wenig aus den Augen verliert. Bei einem ihrer Beschattungsgänge trifft Jule einen Jungen aus besserem Hause, einen Computerfreak, dessen Welt durch die Regie so gestaltet wird, daß man mit ihm in ein komplett abgedunkeltes Bühnenbild eintaucht. Sterne flackern und er ballert als Held darin mit zwei überdimensionierten Tötungsmaschinen herum. Nähert sich seine Mutter, wird die Sternenhöhle zum stinknormalen Jungenszimmer, und man sieht ihn wieder mit einer Tastatur auf den Knien und verkniffenem Gesicht Richtung Publikum starren. Diese Freundschaft ist klassenübergreifend und hat dadurch so ihre Schwierigkeiten, es wird das große Lied vom Besitzen angestimmt: Alles deins, alles meins … was nicht hölzern, nicht schulmeisterlich, sondern wunderbar ergreifend wirkt.
Gedanken werden sichtbar gemacht
Dem entgegengestellt: Die penibel aufgeräumte, fast leere Wohnfernsehküche, in der Jule und Tim auf die Mutter warten. Sie haben Ärger in der Schule, kloppen sich um Nutella und begrüßen die Mutter, die versucht, auf Regeln zu bestehen, die wiederum von ihrem Ärger erzählt, weil sie neuerdings den Unterhaltsvorschuß nicht mehr bekommt … Ich weiß nicht, wie das Grips es macht, aber nichts wirkt klischeehaft bei dieser überaus typischen Niedrigverdienerrestfamilie, in deren Zuh ause nur fernsehtönende Leere herrscht, in der die überbordenden Probleme erstickt werden. In der Grips-Fassung werden die Gedanken des Mädchens in Songs sichtbar gemacht, wobei Gefühligkeit immer wieder gebrochen wird, so daß der große Song: »Wer hat Zeit für mich?« weder mitleidsheischend noch kitschig klingt. Die Probleme des 16jährigen Tim sind der Nebenstrang, er arbeitet heimlich in einer Fahrradwerkstatt, die sich als Fahrradklauwerkstatt herausstellt. Dazu gibt es einen Rap von Tim: »Wer hat eigentlich die Regeln gemacht? Also ich hab’ sie mir nicht ausgedacht. Und wenn mir diese Regeln keine Chance geben, kann ich ja wohl auch nach anderen leben!«
Dialektik zur Aufklärung
Es passiert, was man sich wünscht, was ein Modell sein könnte: Aufklärung, sich wehren, erst Zuspitzung der Gegensätze, dann Einsicht, gutes Zusammensein, These – Antithese – Synthese, die Dialektik ist eine Freundin des Grips-Theaters. Später fühle ich mich gedrängt, dem Schauspieler Sebastian Achilles die überaus idiotische Frage zu stellen, ob er das Rappen vielleicht schon aus seiner Jugend kenne? Nein, das hat er erst neu gelernt durch den Choreographen Ricardo De Paula aus Brasilien. Allein wegen des Rap lohnt es, die Rütlischule in dieses Stück zu führen, die Altersangabe »ab 9 Jahren« täuscht, es ist auch was für Größere. Piscator-Theater für Kinder und Jugendliche, ein Brecht’sches Theater, das, so leid es mir tut, über das Niveau des heutigen Berliner Ensembles weit hinausreicht. Schon lange scheint mir, als ob Brecht von dort weggezogen und zum Hansaplatz und nach Neukölln übergesiedelt ist. Überhaupt schwirrt und flattert er wild umher in der Republik, in den Provinzen, wo man ihn am wenigsten erwartet, in den kleinsten OFF-Bühnen, wo meist im Osten Menschen mit ihm zusammen noch was aussagen wollen, das der Überwindung bestehender Verhältnisse dient.