`Schwindel´ an der Neuköllner Oper – Rezension

Die Farbe Weiß spielt eine gewisse Rolle in diesem skurrilen »Bilderreigen über Schönheit und Scheitern« an der Neuköllner Oper in Berlin (Uraufführung 9. Januar).

Sie ist zu Beginn des Stückes vertreten durch ein puppenartiges Wesen (Ni Fan), das mit einem Geigenbogen und einem kleinen Becken einen einzigen Ton hält.

Der Globus hat die Krätze

Es gibt einen Erzähler, der heißt Pique Dame nach der Spielkarte, einer Puschkin-Erzählung und der darauf basierenden Tschaikowski-Oper. Die Erzählerfigur steht für Spielsucht im erweiterten Sinne. Ihr erster Auftritt ist ein Sprung in den schmalen Theaterraum, in dem ein Toter im Fahrstuhl hängt. Der närrische Alte im Clownskostüm, köstlich karikierend gespielt von Günter Schanzmann, kichert: »Der Globus hat die Krätze, und der Mensch? Er ist das einzige Wesen, das sich weigert zu sein, was es ist«. Dann holt er die dritten Zähne aus dem Mund, hält sie den zurückweichenden Zuschauern hin, lacht, stößt Tiraden aus, ist witzig und wütend, zeigt nach oben. Da liegt eine zweite leblose Figur im altertümlichen Fahrstuhl.

So, ihr Mäuse, jetzt noch eine Chance

Die beiden heißen Boritschka (Magnus Hallur Jónsson, Tenor) und Eva (Ulrike Schwab, Sopran). Ähnlichkeiten mit realen Personen sind nicht zufällig. Boritschka ist dem Oligarchen Boris A. Beresowski nachgebildet, der im März 2013 erhängt aufgefunden wurde, ohne daß sich Spuren eines Kampfs hätten finden lassen; Eva erinnert an Ruth Madoff, Gattin des 2009 zu 150 Jahren Haft verurteilten Finanzbetrügers Bernie. Pique Dame nähert sich den beiden: »So, ihr Mäuse, jetzt noch eine Chance!« und schneidet den Hängenden ab. Noch zwischen Leben und Tod krampfend, hebt der zu singen an: »Für mich besteht die Welt aus Siegern. Ich versteh’ mich drauf, allein zu sein! Ich, ich, ich…« – wie ein Hustender, dann: »Ich seh’ alles, ich weiß alles, ich bin Gott!«

Hach, ich bin so kritikempfindlich

Eva erklärt im Erwachen: »Ich kann keinen Schmutz sehen«, trällert albern herum. Darauf er: »Hach, ich bin so kritikempfindlich!« Beide wollen Unsterblichkeit. »Laß uns das Geld vermehren!« schreien sie. Ein Spieltisch entzückt sie wie der Stoff die Junkies. Das Zocken bringt sie gegeneinander auf, in einsamen Kreisen winden sie sich auf dem Boden. Eva liebkost das Geld wie ein Baby. Eine Folie à deux, zu der sich die Pique Dame immer mehr in einen Harlekin verwandelt.

Die Falschheit und die Hoffnung

Zu den ersten Bildern erklingen zwei Kantaten von Georg Philipp Telemann, »Die Falschheit« und »Die Hoffnung«. Sehr schön gesungen, mit ausdrucksvollen Gebärden und mimisch unterlegt. Später folgen Kompositionen von Schostakowitsch, Mussorgski und anderen, auch das Lied »Money, money« aus dem Musicalfilm »Cabaret« wird von dem weißen Puppenwesen aus der Eingangsszene auf dem Vibraphon gespielt. Ni Fan entlockt dem Instrument mal leise flirrende, dann wieder donnernde Töne.

Dass hier jeder jeden betrügt

Das Stück von Regisseurin Julia Lwowski heißt »Schwindel«. Das bezieht sich zum einen darauf, dass hier jeder jeden betrügt (die Pique Dame ist ein grauslicher alter Mann, Eva einsam mit Kinderwunsch, Boritschka versucht Minderwertigkeitsgefühlen mit Omnipotenzgehabe zu begegnen), zum anderen auf das schwindelerregende Auf und Ab an den Finanzmärkten. Mit den Kursen steigen und fallen Boritschka und Eva als exemplarische Vertreter dieser Finanzwelt, am Ende winden sich beide wieder in Krämpfen, was der listige Harlekin kichernd zur Kenntnis nimmt.

Töne, Türme, irrsinnige Klänge

»Schwindel« lebt durch die Musik, die Ni Fan auf der Empore abfeuert. Einem Kratzen folgen verzerrte Töne, Türme und Strudel irrsinniger Klänge, dabei wirkt die Musikerin starr, puppen-, maskenhaft, unecht. Und so geben auch die Spieler ihre Figuren: geziert, selbstverliebt, übertrieben. Alles in dieser Welt ist Falschspiel, immerwährendes Als-ob. Und in der Angst, verloren zu haben (zu sein), wird der Wunsch übermächtig, den anderen mit in den Abgrund zu reißen.

Nächste Vorführungen: 18. und 19., 24. u. 29.1., jeweils 20 Uhr

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