Theater der Unterdrückten in Afghanistan – Rezension

13.7.11/jw/Feuilleton

220px-AfghanischeNationalarmeeTheater, schreibt der Autor, habe er lange Zeit als zu elitär, zu kommerziell, zu weit entfernt von sich selbst empfunden. Schauspieler und Regisseure schienen ihm grundsätzlich selbstverliebt. Hjalmar Jorge Joffre-Eichhorn wollte gesellschaftliche Zustände politisch verändern.

Er beschäftigte sich mit Marx, vielleicht noch Brecht, ging in andere Länder, um dort die Verhältnisse zu studieren und sich einzubringen. Geboren 1977 in Hamburg, studierte er Psychologie und Sozialwissenschaften, machte seinen Master in Friedens- und Entwicklungsstudien und bekam in Brasilien ein Buch von Augusto Boal in die Hände, das ließ ihn nicht mehr los. Es veränderte »sein Leben für immer«.

Theater mitten im Kriegsgebiet

Boals Konzept eines »Theaters der Unterdrückten«, eine Weiterentwicklung von Konstantin Stanislawskis »Aktionstheater« und Bertolt Brechts epischem Theater, begreift Joffre-Eichhorn als politische Intervention. Diese Methode unterrichtet er in Workshops und nutzt sie ganz praktisch – seit vier Jahren in einem eigenen Theater in Afganistan, mitten im Kriegsgebiet. Über seine Erfahrungen hat er nun ein Buch verfaßt: »Tears into Energy«, aus Tränen Energie machen. Das »Theater der Unterdrückten« bezieht die Zuschauer problemlösend in die Handlung mit ein. Die Beteiligten lernen dadurch die »Revolution auf Probe«. Diese Erfahrung gibt ihnen Kraft für das Entwickeln echter Alternativstrategien für ihr eigenes Leben. Das ist keine Therapie, sondern Politik in der ersten Person, Ergebnis von kollektiver Diskussion. In Afghanistan arbeitet Joffre-Eichhorn mit Menschen, die von mehr als 30 Jahren Kriegszustand traumatisiert sind.

Visionen von unten

Hierzu hat er eine eigene Nichtregierungsorganisation ins Leben gerufen. Sie gibt den Menschen die Möglichkeit, ihre Sorgen und Bedürfnisse überhaupt erst mal zu äußern. Das passiert nicht einfach verbal, sondern in Form von Ausdruck, Standbild, selbstgespielter Szene, im Kontrast von Realität und Wunsch. So gelingt es, dem Terrror körperlicher und wirtschaftlicher Gewalt konkrete Bedürfnisse, ja Alternativen und sogar Visionen von unten entgegenzusetzen. Diese werden situativ entwickelt, sie entstehen oft ohne zu sprechen, nur mit Körperausdruck. Laut Joffre-Eichhorn werden solche Aktionen meist ungeheuer befreiend erlebt, sie wirken geradezu bewußtseinsumwälzend. Besonders von Frauen werden die Angebote mit großer Freude und Kreativität aufgenommen. Joffre-Eichhorn hat sich von Beginn an nicht im Schutz der gesicherten internationalen Selbstbespiegelungsorte bewegt, sondern Aufführungen in Gemeindezentren, in privaten Räumlichkeiten und in vom Krieg zerstörten Gebäuden organisiert.

Ausgegrenzte Gruppen mobilisieren 

Das »Theater der Unterdrückten« verfolgt das Ziel, das oft elitäre, unpolitische und zu einem reinen Konsumobjekt gewordene Theater zu demokratisieren, indem es ausgegrenzte Gruppen mobilisiert. Dies geschieht beispielsweise mit »Unsichtbarem Theater«: Im Öffentlichen Raum agieren die Schauspieler mit den Zuschauern, sie spielen mit ihnen, ohne es ihnen mitzuteilen. Idealerweise können so Ungerechtigkeiten und Gewaltverhältnisse thematisert werden. Mit Hilfe des »Forumtheaters« können nicht gelöste Probleme auf einer Bühne zugespitzt werden, derart, daß die Zuschauer nun selbst agieren und die Szenen so oder so zu Ende bringen. Absicht ist es, eine konkrete Unterdrückungssituation nicht nur theoretisch zu kritisieren, sondern zu versuchen, diese im sicheren Umfeld des Theaters aktiv zu verändern, um sie dann im wahren Leben ebenfalls verändern zu können. Zumindest bekommt man Hinweise, in welche Richtung es gehen könnte.

Menschen die sonst schweigen, beginnen zu sprechen

In Afghanistan bietet sich das »Playback-Theater« an: Eine als traumatisierend empfundene Situation wird von einem Zuschauer geschildert, eine Schauspieltruppe spielt sie nach. Dies dient zur Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen wie einer alternativen Chronologie der politischen Ereignisse. Menchen, die sonst schweigen, beginnen zu sprechen: Zum Beispiel eine Frau, die an einem Tag erst ihren Sohn und dann ihren Ehemann in Bombenangriffen verlor und seitdem allein in einem der ärmsten Viertel Kabuls lebt und die Aussage in eine Playback-Theaterform einbrachte: »Trotz all der Millionen, die in den letzten Jahren ins Land geflossen sind, lebe ich in einer Hütte ohne Wasser und Strom, und die Mörder meiner Familie posieren heute als überzeugte Demokraten.« Joffre-Eichhorn macht aber auch konventionelles Theater. Mit dem Dokumentartheaterstück »Infinite Incompleteness« tourte er durch ganz Afghanistan. Darin erzählen Männer und Frauen in den verschiedenen Landessprachen ihre Kriegserlebnisse in sämtlichen jüngeren Konfliktperioden des Landes.

Joffre-Eichhorn wendet sich gegen eurozentristische Sichtweisen, nach denen man es in Afghanistan mit einer mittelalterlich rückständigen Bevölkerung zu tun habe. Lokale Kapazitäten und Traditionen werden so ignoriert, die Veränderung des Status quo blockiert – selbstverständlich von den Institutionen des freien Westens.

Hjalmar Jorge Joffre-Eichhorn: Tears into Energy – Das Theater der Unterdrückten in Afghanistan. Ibidem Verlag, Hannover 2011, 260 Seiten, 19,90 Euro