Sacre – Luxus, Resignation, Wut: Politisches Ballett zu Bach und Strawinsky – Rezension

Goldbergvariation Das Stralsunder Theater liebt Überraschungen: Ich gehe harmlos ins Theater zu einer Ballettaufführung und erwarte nichts als einen gemütlichen Musikabend, da gerate ich in eine so scharfe und kritische Aufführung, dass ich nicht mehr schlafen kann.  Zunächst im ersten Teil: Eine schneeweiße Bühne, Elbvilla oder Alsterpavillion, schwarzer Becksteinflügel, glänzend und Menschen, die wie Partygäste nacheinander die Bühne betreten und langsam zu tanzen beginnen. Ballett kann schwierig sein, meist, wenn es zu traditionell daherkommt. Die ewig gleichen vorgeschriebenen Figuren, Spitzentanz, Pirouetten, Schwünge, Spagate, sie langweilen auf die Dauer.

Frauen wie Puppen

Die Goldberg-Klaviervariationen von Bach werden klingen wie Keith Jarett, das Ballett wirkt modern, weiße und federleicht wehende Kleider der Frauen mit orangeroten Farbtupfern auf nüchterner Bühne mit Glasverandadach und Plastikfolienhintergrund. Die Männer kommen wie Anzugsmenschen eines IT-Unternehmens daher, tanzen aufrecht, tun groß und die Frauen sinken ihnen wie Puppen in die Arme. Diese werden schwach, sobald sie von den Männern auch nur berührt werden. Man sieht sie oft mit gespreizt erstarrten Beinen und hochgerutschtem Flügelrock wie feilgeboten herumgetragen, wie Besitz, dazu Lachen, Einverständnis, Freude. Das Ergebenheits- und Werbungsverhalten der Frauen korrespondiert mit dem Eroberungs- und Machtgehabe der Männer und die Klänge von Bach und die hellen Farben schönen alles, was da ist, zu einer netten Athmosphäre um, die Männer, jung, nett, freundlich, die Frauen zwar Puppen, aber schön, lieb, schwungvoll, eine Welt voller Harmonie aus der Hochglanzwerbung, traditionell, aber hell und modern, dazu die sanften harmonischen Bachklänge.

Die Übrigen verrecken

08Erst aus dem nächsten Stück des Abends wird klar, was hier gemeint war: Die Oberen feiern gut zu Bach und die Übrigen verrecken auf Müllhalden. Musik ist diesmal Stravinsky: Sacre du printetemps, klingt nach Frühling, ist es aber nicht. Soll erst werden, wird aber nicht. Ein Messielager mit herabhängendem Galgenstrick wird vor einer gänzlich schwarzen Bühne sichtbar, Berge von aufgetürmtem Konsumschrott, Möbel kaum sichtbar, dafür wirre Kistenhaufen, Kühlschränke, gelbe Säcke, gestapelt, gefüllt, eine Müllhalde mit verdreckter Badewanne, aus der sich ein nackter Körper wie ein Wolfsjunges in konvulsivischem Zucken erhebt. Das Wesen ist übersäht mit Wunden und Dreck, nicht aufdringlich, nicht übertrieben gemacht, nur eben so, dass es vorstellbar ist. Es bäumt sich auf, sinkt wieder nieder, es erhebt sich, sein Rücken wird sichtbar, der beugt sich über den Rand der Wanne vom Publikum weg, als müsse es sich erbrechen, es kriecht mühsam heraus, läuft auf allen Vieren. Andere, ebensolche, kriechen aus verborgenen Löchern, torkeln. Sind sie Überlebende eines Atomschlags, Verbrannte, Verwundete, Opfer eines Bombenangriffs? Man sieht, sie schälen sich aus den Müllhalden heraus, wie Straßenkinder in Rio, sie werden von Krämpfen geschüttelt, wie Pattex-Schnüffler. Sie sind entseelte Figuren, die nicht mal mehr sich selbst kennen, sie wanken herum, wenn sie nicht kriechen, sie fallen übereinander her, sie beißen einander in die Arme, alle haben Wunden, Resignation wechselt mit Wut ab.

Wie Muselmänner in KZs

Einen größeren Kontrast zu den Lichtgestalten des ersten Teils konnte es nicht geben… dabei erkennt man: Es sind dieselben Schauspieler. Es ist Krieg: Die Menschen schleichen herum, suchen, ducken sich, bäumen sich auf, wenn sie getroffen sind, verstecken sich hinter Tonnen und Hausecken, Schüsse hallen, Es gibt Tote, Verwundete, es gibt Flucht, Tod und dazwischen werfen sich Männer auf Frauen nur eben drauf und nirgends wird Trost sichtbar, Hilfe. Die Gesichter der Menschen sind gestorben wie die von Muselmännern in den KZs, starr, unbewegt, überwältigend ausdrucksstark in ihrer anprangernden Leblosigkeit. Wenn sie zusammenlaufen ist das nie ein Schützen und Halten, immer ein Anklammern, das sie gleichzeitig abwehren. Sie werden zusammengetrieben, sie werden gejagt, sie werden geschlagen und angebrüllt, doch nie sieht man die Täter, nur die Opfer bleiben sichtbar.

Ein Vietnam-Mädchen im Napalmregen

Sie machen, was man ihnen befiehlt, sie gehen im Kreis und bewegen sich wie Automaten, Bombengeschwader erhellen den Himmel, Dröhnen, Trommelwirbel wie Explosionen, die Wesen laufen weg, jeder sucht sich zu retten, sie kriechen, winden sich, bäumen sich auf und fliehen. Alles vergeblich.. Ein Vietnammädchen im Napalmregen bleibt übrig, sie hält ihre nackten Arme von sich ab, sie verharrt im Schmerz, sie zuckt, krampft, einer umkreist sie wie der Geier sein Aas, sie zucken auf wie von tausend Schüssen. Neue Wesen kriechen hervor, nie Trost, nie Liebe, nirgends Hilfe. Ein Inferno. Jeder ist nur mit sich selbst beschäftigt, sie legen sich aufeinander und finden auch so keinen Trost. Sie berühren sich manchmal, aber dann beißen sie sich sogleich, was hat dieses 20. Jahrhundert doch für Raubtiere aus den Menschen gemacht? Sie stehen auf und bewegen sich wie unendlich getretenen Opfer, als lägen sie in den Ketten eines Banjos und schleppten sich durch endlose Wüsten, oder Feuersbrünste, sie wanken mehr als sie vorwärts kommen, erstarren, laufen manchmal im Kreis mit gesenkten Köpfen. Sind sie gefesselt, angekettet? Mit einem Mal erheben sie sich und laufen schneller, sie rennen, sie drücken etwas weg, sie erheben ihre Köpfe und toben, ist das der Widerstandsgeist, der durch sie hindurchfährt? Sie wehren sich. Doch andere kommen ihnen entgegen, wie Wölfe kommen sie drohend aus dem Müll und wie eine Herde Hyänen geifern sie sich gegenseitig an, übrig bleiben Tote und sich am Boden windende Leidende.

Ist der Mensch klein gegen die Macht ?

Einige wenige kauern sich noch zusammen in ängstlich geballter Gruppe. Wie klein ist der Mensch angesichts der Macht. Schleichen der Musik wechselt mit Heftigkeit ab, das eine ist so bedrohlich  wie das andere. Dann wird einer herausgegriffen, die anderen bilden einen Kreis, in dem der eine leidet. Folter, er tanzt in der Mitte von Schmerzen zerrissen, wird von imaginären Peitschhieben getroffen, torkelt, wird hin und her geworfen, gejagt, über den Boden getrieben, seine Bewegungen sind alles Ausweichbewegungen, die Schlagenden sieht man nicht, nur ihn, das Opfer, der sich aufbäumte und sich nicht ergab. Nun ist er schon blutig, noch wehrt er sich, es steigert sich die Musik, dann bäumt er sich ein letztes Mal auf, bricht tot zusammen, die anderen kommen auf allen Vieren heran, fallen über ihn her. Ende. Während man atemlos diesem Inferno zuschaut, tauchen die Bilder aller Welten vor einem auf, man sieht Vietnam, Irak, Afganisthan, Gaza, man sieht Ausschwitz, Hiroshima, Gojas Kriegsbilder, man wird sie nicht los, die Assoziationen. Man sieht die Kinder der Welt auf Müllhalden nach Brauchbarem suchen, man sieht den Gelbe-Punkt-Müll, wie er als Wertstoff deklariert in den Südländern auf Müllhalden landet, den Viktoriasee und seinen Industrie-Fischfang, eine ganze Region, kaputt, erledigt, die Menschen zu lebenden Toten gemacht, man sieht die Ertrinkenden, die in den Staudämmen der Firma Züblin versinken, die Frauen, die deren Rollbahn bauten, 1944, mit 13 und 18 Jahren, von 1700 blieben noch übrig 300, die haben Alpträume bis heute. Man sieht die Armut und das Elend der 85 % Weltbevölkerung, die vom Rest ausgesaugt werden und deren Abfälle zu fressen kriegen, man sieht und fühlt deren unglaubliche Rache, die eines Tages auch uns treffen wird. Man sieht Guantanamo, man sieht und sieht und kann nicht mehr schlafen, auf all dem, was also im Keller, im Dunkeln, am Boden liegt, scheinbar, noch, auf all dem tanzen die Lichtgestalten der weißen, hellen sauberen Welt zu Bach, wie lange noch?

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