Über die langsame Entwicklung zum Wossi

Hirsch Heinrich

aus EMMA Heft 6 / 2009

Mein Vater brachte mir von seinen DDR-Reisen oft Kinderbücher mit, die in einem angenehmen Kontrast standen zu denen, die mir sonst so vorgelesen wurden. In den Kinderbüchern der DDR brach Hirsch Heinrich aus Einsamkeit aus seinem Gehege aus und lief in den Wald, war aber so traurig dort, dass er freiwillig zurückkehrte, dann aber kümmerte sich der Lehrer mit seiner Schulklasse ganz lieb um ihn, eine Wolkenliese träumte von Schafen im Himmel und rettete ein Kind und im Buch Weltall-Erde-Mensch konnte ich Steinzeitmenschen bewundern. In meiner sonstigen Kinder-Lektüre wurden einem Kind die Daumen Das Wolkenschafabgeschnitten, dass das Blut nur so spritzte, ein Mädchen verbrannte jämmerlich, einer verhungerte und einer wurde in ein riesiges Tintenfass getunkt, als durchaus einsehbare und gerechte Strafe dafür, dass die sorgsamen Ratschläge der Erwachsenen nicht beherzigt wurden, in einem anderen Buch wurden zwei freche Jungen wegen ihrer wilden Rabaukenhaftigkeit erst zu Mehl zermahlen, wobei ich besonders grausam fand, dass man die Bruchstücke der Jungen wieder in ihrer ursprünglichen Formen angeordnet hatte, dann im feuerheißen Backofen gebacken und schließlich aufgegessen. In den Märchen, die man mir vorlas, wurden Bäuche aufgeschnitten, Wackersteine rein getan, es wurden Menschen zu Stein verwandelt, vergiftet und dergleichen den Einschlaf fördernde Dinge mehr.

Brecht und Tucholsky und Bücher von Alexanderplatz

Es war also so, dass ich die DDR-Bücher sehr liebte. Ich hatte auch schon als Kind Tucholskys und Brechts Lieder von Ernst Busch gesungen gehört, hatte später, als ich heranwuchs in Ostberlin das Brechttheater besucht und hatte mir Geschichts-, Kunst-, Marxismusbücher, aber auch Literatur der Weimarer Republik, des Exils, von Heine, Lessing, Büchner, auch Philosophie und vieles andere stets von meinem Zwangsumtausch in der Alexanderplatzbuchhandlung gekauft und war doch immer Tourist geblieben, mehr als das, eine Fremde. Ich hatte das immer bedauert, wir hatten weder Verwandte noch Freunde „drüben“, es gelang mir nicht, zu den leibhaftigen Menschen dort Kontakt aufzunehmen. Ich war auch nicht frei von Skepsis, wenn ich das „Drüben“ erlebte.

Biermann und Bettina Wegener

Herrschte dort schließlich ein ebenso autoritärer Ton, wie ihn Peter Weiß beklagte, als er (in Raporte II) begründete, warum er nicht nach Deutschland zurückkommen könne und wie ich ihn von meiner Kindheit her zur genüge kannte. Zweimal reiste ich mit Gewerkschaftsgruppen und auch da schien mir alles etwas steif, unecht und gewollt zu sein, immerhin war ich mit Dutschkes „Neuer Linke“ aufgewachsen, hatte mit 13 Jahren den Studenten auf der Hamburger Moorweide gelauscht und hatte heftige Kritik am „Staatssozialismus“, an der Mauer, an der Stasi und war auch Fan von Biermanns Liedern. Bettina Wegner , mit ihrem Song:  „Sind so kleine Hände.., winzge Finger dran, darf man nie drauf schlagen.., gehen kaputt dabei…sprach mir aus der Seele, man kann also nicht sagen, ich hätte keinen blassen Schimmer von dem Land gehabt, in dass ich schließlich, im Jahre 2003 „auswanderte“.

Hier gelandet zu sein

Vorurteilsfrei und fröhlich trat ich also meinen ersten Arbeitstag an. Hier gelandet zu sein, würde sie nicht ihrem ärgsten Feind wünschen, begrüßte mich am ersten Tag eine Kollegin und was ich denn hier wohl verloren hätte. Meiner gestotterten Antwort wandte sie keine weitere Aufmerksamkeit mehr zu. Sowieso nahm man nicht Recht Notiz von mir, wenn ich rein kam und schüchtern mein „Hallo“ in den Raum warf, blickte niemand auf, was meine Begrüßung schließlich noch unscheinbarer ausfallen ließ. Gleichzeitig machte ich die verblüffende Entdeckung, dass nach einer merkwürdigen Regel zur Begrüßung Hände gegeben wurden, einige gaben sie, andere nicht, manche gaben sie allen der Reihe nach, andere betraten ohne Begrüßung den Raum. Es sollte ein Jahr dauern, bis ich begriffen hatte, dass es im Osten üblich ist, jedem Menschen, der schon da ist, morgens ganz förmlich die Hand zu geben und einen guten Tag zu wünschen, sobald man den Raum betrat, sich dann zu merken, an wem man sein Begrüßungsritual schon vollführt hatte um dann den weiteren Tag nach einer heimlich herrschenden Hierarchie, die mir lange gänzlich verborgen blieb, zu erwarten, dass einem von jedem neu Eintretenden die Hand gegeben wurde.

Fettnäpfchen

Wie oft ich in dieses Fettnäpfchen trat, ist nicht zu sagen, kam ich zu spät zu einer Konferenz und saßen schon alle, so traute ich mich nie mehr als ein entschuldigendes „Hallo“ herauszupressen, es wurde aber ernsthaft erwartet, dass ich um den gesamten Tisch herumdefiliere und jedem Einzelnen die Hand schüttelte, abgewandte Gesichter waren die Folge, kalte Augen und unklare spätere Debatten über die Unhöflichkeit und Arroganz der Wessis entspannen sich. Jedesmal, wenn ich das Wort ergriff um auch einen Gedanken zu äußern, wurde dies als ungehörig betrachtet, denn Konferenzen verlängert man nicht unnötig, auch schmeichelt man sich nicht beim Chef an, indem man Neuerungen vorschlägt. Man hört zu, schreibt auf, ist leise, kommt pünktlich und geht pünktlich. Es dauerte eine Weile, bis ich dahinter kam, dass jedes Mal, wenn ich mich besonders eifrig zu Wort gemeldet hatte, mir das als arrogant, besserwessihaft und profilierungssüchtig ausgelegt worden war.

Die sollen jetzt auch mal bluten

Auch meckerten die anderen beständig über ihre Arbeit, während ich pfeifend durchs Schulhaus ging, dieses Verhalten konnte nichts anderes als künstlich aufgenommen werden, denn die Masse an erlittenen Demütigungen hatten bei den meisten ein solches Maß erlangt, dass an Pfeifen im Schulhaus nun wirklich nicht zu Denken war. Da ging es um vormaligen Degradierungen, Nichtanerkennungen von DDR-Abschlüssen, Herabstufungen, Verlust von Selbstwert und Ehren, alles in allem von fünfzehn Jahren heruntergeschluckter Wut, von der ich nicht nur gänzlich frei zu sein schien, nein, für die ich nun ein willkommenes Ziel darstellte: „Die sollen jetzt auch mal bluten!“, sagte mir eine sonst sehr nette Kollegin in meiner ersten Woche mit blitzenden Augen, als ich bei einem unserer ständig stattfindenden Ost-West-Debatten anmerkte, dass es im Westen auch vielen Menschen schlecht ginge und es dort nicht nur Millionäre gäbe.

Als Wessi enttarnt

Natürlich war ich als Wessi schon in der ersten Sekunde enttarnt, man entnahm es meinem Gesichtsausdruck, glaube ich, oder meinem alternativen Äußeren, dann natürlich meinem unhöflichen Auftreten, meiner fehlenden Scheu, Leuten ins Wort zu fallen, einfach allem an mir, was sämtliche Vorurteile in einer Person verdichtet hatte. Menschen der Alternativszene, die etwas bunter angezogen sind, ihr Haar offen  tragen, in Jeans herumlaufen, haben sich in der DDR niemals in Schulen niedergelassen. Man findet sie daher heute noch nur in Künstlerkreisen, auf Handwerker-märkten, in christlichen Freizeiten und am Lagerfeuer abseits gelegener Dorfkommunen, die in keinem Adressbuch verzeichnet sind. In den Staatsdienst kamen nur Hundertprozentige.

Vereinnahmung statt Vereinigung?

Wenn Du wüsstest, sagt mir eine Ost-Freundin, wie es hier kurz nach der Wende war, da kamen irgendwelche Leute aus dem Westen, die man da wahrscheinlich nicht haben wollte, bekamen doppeltes Gehalt, Haus, Hof und dickes Auto und wurden unsere neuen Chefs. Wollten uns sagen, was wir zu tun hätten. Wussten alles besser. Klare Vereinnahmung, Kolonialisierung. Ich stimme zu, denn ich bin kein Chef, und dann treffe ich mich mit ihnen auf dem kleinsten Nenner politökonomischer Wahrheiten von Karl Marx, den ich auch sehr gut kenne. Aber sie kommen immer zu anderen Konsequenzen als ich und dann trennen sich unsere Wege wieder und ich bleibe nur “der” typische Wessi.

Ich bin Forstarbeiter, sagte die Frau in der Bibliothek

Die genderbewusste Sprache ist hier unbekannt und wird als Spinnerei verlacht. Man kennt weder Luise Pusch noch hat frau jemals ihrer Berufsbezeichnung ein lächerliches „in“ angehängt. Darin fühlen wir uns klein gemacht, sagte mir “ein” Forstarbeiter, eine äußerst belesene Hartz-IVEmpfängerin, die in einer Bibliothek arbeitet. Beruf Forstarbeiter, später Politökonom. Sie klärte mich über die “Bilderberg-Gruppe” auf, wo die 50 reichsten Menschen der Welt zusammenkommen um die nächsten Wirtschaftskrisen, die nächsten Kriege und die Lissabonner EU-Verträge
auszuhecken. Die würden schon Atombunker in den Bergen von Norwegen bauen. Klingt schräg, aber stimmt alles, ich hab das nachgeprüft. Forstarbeiter “in” hätte sie als beleidigend empfunden.

Unbekanntes Kulturleben

scarlet oMein Kulturleben gestaltete sich ebenfalls peinlich. Ich entdeckte eine Kulturscheune mit einem interessanten Programm von Lesungen, Kabarett und Musikvorstellungen mit einem Andreas und seiner Sabine. Mein Erstaunen, meine Bewunderung, ja selbst mein Lachen verriet hundertfünfzig Besuchern auf einen Schlag den Wessi, denn was die anderen schon zum tausendsten Mal gehört hatten, war mir gänzliches Neuland und wenn ihnen die altbekannten Erinnerungen höchstens ein Schmunzeln abrangen, brach ich in laute Beifallsbekundungen aus. Ich war entzückt über Hans Eckart Wenzel, den Kabarettisten, über Sakowsky, den Schriftsteller, und zahllose andere, deren Namen mir schon wieder entfallen sind, während die DDRler sie selbst im Schlaf auswendig hersagen können. „Kennst du nicht Skarlet O?“, fragte mich entgeistert mit großen Augen besagter Andreas. Nein, stotterte ich. „Eine großartige Frau, die größte, die wir je hatten!“ seufzte er. Es handelt sich um eine Sängerin im Mireille-Mathieu-Stil, ich hatte nie etwas von ihr gehört. „Kennst du nicht Täve Schur?“ und dabei war der Ausdruck im Gesicht des Fragenden nachgerade bedrohlich. Nein, gab ich zu, woraufhin die gesamte um ihn herumstehende Gruppe in mürrisches Gemurmel ausbrach und sich abwandte. (Ein berühmter Radsportler.)

Ich beschloss mich zu belesen

Ich beschloss dann, mich zu belesen und besorgte mir Bücher von Erik Neutsch, Harry Türk, Helmut Sarkowski, Daniela Dahn, Eva Strittmatter, Robert Merle und vielen anderen, aber als ich einmal freudig in die sieben Brücken einstimmte, examinierte mich eine Kollegin sofort: „na, Frau Röhl, die kennen sie wohl nicht, was?“ Doch, erwiderte ich schlagfertig, „Pudhys!“ es war aber Karat gewesen. Tatsächlich wissen die DDRler mehr von den Westkünstlern als wir von denen im Osten. Westfernsehen, Westradio waren heiß begehrt und man kennt Heino, Udo Jürgens und Udo Lindenberg, strahlende Lichter am Künstlerhimmel, die ihnen im Vergleich zu ihren Künstlern allerdings heute sehr bedeutungslos scheinen.

Feministinnen aufgeblasene Hühner?

Die Frauenemanzipation war im Osten praktisch weiter, theoretisch aber zurück. Feministinnen erscheinen ihnen wie aufgeblasene Hühner, die viel Lärm um nichts machen. Orgasmusschwierigkeiten? Machtgebaren von Männern? Kannten wir nicht, die Herren haben gemacht, was wir wollten, Ha Ha! Die Ostfrau will Arbeit und dann hat der Mann auch was im Haushalt zu tun. Erfreulicherweise haben sie dieses Streben auch an ihre Töchter weitergegeben,
die von der Hausfrauenrolle nun wirklich nichts mehr wissen wollen.

Ich fühle mich oft einsam

Ich lebe jetzt sechs Jahre im Osten und habe die Ossis wirklich lieb gewonnen. Doch dass ich sie kennengelernt hätte, kann ich nicht sagen. Ich fühle mich oft einsam und ungeborgen, und wenn ich dann in Berlin Kreuzberg in einem Straßencafé zur Visite bin und die vielen grauhaarigen Gleichaltrigen – meine Schüler würden sagen, alternde
Hippies – sehe, dann fühle ich mich unter Gleichgesinnten und die Fremdheit, die mich im Osten zu jeder Minute umgibt, wird mir überdeutlich. Wenn dann diese „alternden Hippies“ aber den Mund aufmachen und über die Ossis herziehen, wie dumm die seien, wie autoritär und hinterwäldlerisch, dann fühle ich mich auch im Westen nicht mehr so ganz zuhause.

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