Zweiter Stapellauf in Rostock: Toleranz – Rezension

2.10.15 / jw-Feuilleton

In Rostock führt der Intendant Sewan Latchinian die Tradition aus Senftenberg weiter, die neue Spielzeit mit jeweils einem den ganzen Tag andauernden Theatermarathon zu beginnen, in dessen Verlauf drei Premieren vorgestellt werden, man zwischendurch essen und trinken kann und alles in ein übergreifendes Thema eingebettet ist.

Kernstück des diesjährigen Mammut- Ereignisses zu Beginn der Spielzeit: Nathan der Weise mit Bernd Färber in der Hauptrolle, einem einzigartigen Charakterschauspieler, den Latchinian sich nach Rostock aus Senftenberg mitbrachte. Thema des diesjährigen “Stapellaufs” ist Toleranz.

Im Weiteren ist das moderne expressionistische Ballettstück: Sacre du printemps,  zu sehen, und am Schluss: Alles verbindende Liebeslieder aus mehreren Jahrhunderten. Weil Liebe die Versöhnung symbolisiert, die in der Toleranz immer enthalten ist, wie der Intendant im Pressegespräch ausführt.

Kleiderständer, Verpflegungstische im Rostocker Bahnhof

Zum Thema Toleranz war schon bei Anfahrt nach Rostock Positives zu erleben: In der hypermodernen Passage unter dem Rostocker Bahnhof ( Man sah nie eine kältere, es gibt keinen Laden, kein Bild, nur graugrüne Steine an Wänden und Boden) war ein Bettlaken gespannt: Refugees welcome! Dazu einige vollgehängte, ordentlich sortierte Kleiderständer, Verpflegungstische mit Äpfeln und Kaffee, Absperrung durch Polizei inbegriffen. Und davor und dahinter junge Menschen, die von Hunderten von Menschen umringt, Sachen anprobieren ließen und Kaffee und Kuchen ausgaben.

Zur Einstimmung Volksfestatmosphäre

Derart eingestimmt, erlebt man auf dem Vorplatz des Theaters eine Volksfestatmosphäre, wie Straßensänger zufällig in Ecken sitzende Akkordeonisten, Jahrmarktbuden, in denen man Getränke bekommt, Leute flanieren und sitzen in Sesseln in der Sonne, alle warten, bis irgendwann die große Glocke oben auf dem Nebenanbau des Theaters, einem riesigen Gebäude, der Vorderansicht eines Schiff ähnlich, von einem winzig kleinen Mann mit Glatze angeschlagen wird. Er steht dort oben mit einem Megaphon, das ist originell, und begrüßt die Rostocker mit einem lauten „Ahoi!“ –  Das “Theaterschiff” kann starten. Latchinian setzt auf Lokalverbundenheit, sucht die Menschen, dort, wo sie leben und arbeiten, abzuholen, betont in Rostock Wellen, Möwen, Schiffsbau und Schiff-Fahrt. “Wir machen Volkstheater, wir spielen für die Menschen hier vor Ort, wir gehen auf sie zu, auf ihre Probleme ein, nehmen diese ernst und verarbeiten sie in etwas, was ermutigt und aufbaut, das ist Kultur und das kommt an”, so Latchinian und sein Team auf der begleitenden  Pressekonferenz. Der Stapellauf ist ausverkauft, für die anderen fünf  Vorstellungen muss man sich beeilen noch Karten zu bekommen.

Empathie als Botschaft

Toleranz als das Gebot der Stunde, Empathie als Botschaft von Theater, das ist Latchinians Anliegen, wie er im Interview sagte. Dies wird im Nathan auf eine bestimmte Weise thematisiert, die durchaus parteiisch ist, widerspricht also der Vorstellung von Toleranz, die diesen Begriff mit Beliebigkeit und Nichteinmischen gleichsetzt. In dieser Hinsicht war Lessing seiner Zeit voraus, er hat durchaus gewusst, Stellung zu beziehen. Das Stück nimmt Partei für diejenigen, die nicht herrschen, sondern unterliegen und nimmt Stellung gegen die Überhebung, für die Klugheit und gegen die Dummheit und macht uns mittels eines Märchens klar, dass jeder Glauben, jede Weltanschauung seinen Wert durch Liebe und Wohlverhalten gegen die Menschen erst beweisen muss und nur allein darin sein Wert liegen kann.

Kriegsgeräusche, Menschenstimmen, Schüsse – stark reduziert

Wie wird diese Parabel hier gespielt? Das Stück beginnt mit neuzeitlichen Kriegsgeräuschen aus dem OFF, wo zwischen den Zivilgeräuschen einer Großstadt, zwischen Autolärm und Menschenstimmen, Schüsse fallen und Bomben explodieren, Martinshörner tönen und Menschen schreien. Aber – nicht aufdringlich, nicht naturalistisch, nicht zuviel davon. Die Bühne selbst ist dunkel, formal stark reduziert, enthält nichts als drei schwarze, offene, mannsgroße  Kästen, Türen ähnlich, durch die gehen die jeweiligen Religionsvertreter auf und ab, Nathans Tür raucht zu Beginn, und eine Eisenschwingtür davor wird vom Tempelherrn zwischendurch einmal mit weißer Farbe bemalt. Einziges Wechselndes: Die Bühne wird im oberen Drittel seitlich und hinten von einem Himmelsvorhang umrandet, der im untersten Rand verwaschen-zersplitterte Bäume gegen den Horizont zeigt. Dieser wird von Szene zu Szene tageszeitlich wechselnd hinterstrahlt, was sehr schön aussieht.

Schach mit gefesselt und geschlagenen Menschen

Eine Besonderheit ist, dass beim Sultan Saladin mit gefesselt und geschlagenen echten Menschen Schach gespielt wird, diese werden wie Puppen hin und hergerückt.  Das ist sehr eindrucksvoll, verstärkt den Eindruck von Grausamkeit des Herrschers und rechtfertigt damit die Angst Nathans, die wiederum die Bedrängnis spiegelt, unter der Nathan die Ringparabel erfindet. Gleichzeitig wird damit der Erkenntnis-Sprung größer sichtbar, den Saladin tut, als ihn die Ringparabel überzeugt. Die schauspielerische Leistung aller Spieler dabei ist großartig.

Bernd Färber: Einer der besten Menschendarsteller

Bernd Färber ist dabei einer der besten Menschendarsteller, den ich je gesehen habe, er schafft den Nathan so zu geben, dass nicht nur heute und damals verschmelzen, dass Vorurteile sogleich zitiert und im nächsten Moment widerlegt werden, sondern auch so, dass einem dieser Mensch so bekannt, wie nah und sympathisch wird, es ist, als kenne man ihn schon seit Ewigkeiten. Sein Minenspiel, sein Augenblinkern, sein Lachen, alles ist zugleich höchst liebenswert, überaus verschiedenartig, aber auch Nathan-typisch. Sein Kostüm, ein neuzeitlicher Anzug, grau, wie von einem Geschäftsmann, wird nur mit einem einzigen Requisit, einer dunkelgrau darüber geworfenen langen Fellweste in manchen Szenen stärker noch zum Typ Nathan gemacht.

Cornelia Wöß gibt Recha trotzig unsentimental

Cornelia Wöß gestaltet ihre Rolle der Recha ungewöhnlich, nämlich äußerst kindlich, das wirkt wild, witzig und weniger dramatisch. Es entspricht der Vorlage, sie ist auch vom Dichter so angelegt, ein Mädchen, fast ein Kind noch.  Dadurch hat die Liebe, die sie ergreift, etwas trotzig-Unsentimentales. Auch wird ein weiteres Vorurteil aufs Korn genommen. Im Verwandtengerangel hat die Regie sich die Spielerei erlaubt, aus dem Tempelherrnbruder eine Tempelherrnschwester gemacht zu haben, das passt auch, denn die Wut und Unnahbarkeit des Tempelherrn wird dadurch doppelt begründet.

Juschka Spitzer gibt Daja weich 

Juschka Spitzer gibt Daja weicher als üblich, sie wird als Geliebte des Nathan angedeutet, das mildert ihr schroffes Wesen.  Auch dies bricht Konventionen.

Gesicht wie Karl Marx

Herausragend ist auch Steffen Schreier als Derwisch, Gesicht und Haartracht wie von Karl Marx, arm ebenso wie er, schüttelt er nach Kurzem den dienenden Bettlerjob bei Saladin ab und wird wieder ein echter Bettler in freizügige Lumpen gehüllt. Er bringt dies mit großer Überzeugung und seinen Kopf trägt er höher nach dieser großen Freiheitsentscheidung,  das ist wunderschön körperbezogen gespielt.

Sacre: Musik sehr schön, Kostümierung a la Körperwelten

Das nächste Stück, Sacre du printemps, ist ausdrucksvoll choreografiert, weich und wild getanzt, die Musik aus dem sichtbaren Orchester hinter der Bühne sehr volltönend, wunderschön orchestriert, aber leider hat sich die Kostümbildnerin etwas äußerst Störendes einfallen lassen: Die Frau, die das Leben symbolisiert, ist in weißem Kleid, aber die Tanzenden, die den Tod beschreiben, treten in Kostümen auf, die wie aus der Ausstellung Körperwelten sind und nicht nur farblich und formal, sondern auch in ihren Haltungen, die dort so bizarr aufgebahrten, enthäuteten Menschenleichen beinahe eins zu eins kopieren.      Das hat, einfach durch das Zitat, etwas Unoriginelles. Und auch, wenn Kinder im Raum sind (was in diesem Fall der Fall war), aber auch nicht jeder Erwachsene liebt es, wenn naturalistisch enthäutete und wie beim Fleischer mit blutig sichtbaren Sehnen und Muskeln bemalte und solcherart grausig maskierte Menschenleichen tanzten, als lebten sie noch.

Liebeslieder in Uniform

Im letzten Teil, werden Liebeslieder aus mehren Jahrhunderten gegeben, hier zeigt nochmal das ganze Ensemble, wie vielfältig ihr Können ist. Auch wirken alle Sparten zusammen.  Man hört Musik vom Schlager bis zur Klassik, die durch eine gemeinsame, völlig seltsame Klammer geeint wird:  Alle treten in Uniformen auf.  Zuerst sind die auftretenden Sänger oft noch steif, streng und gesanglich schüchtern, wie es zu einem Uniformmenschen gehört, dann aber wachen sie förmlich auf, werfen die Uniformjacken fort und lockern ihre zwanghaften Frisuren und Charaktere, Gesang befreit, Liebe widerspricht dem Krieg.

Gelebte Toleranz

An dieser Stelle gibt es das Highlight:  Die 14 Jahre alte in Rostock lebende Reem Sahwil, die im Juli in einem Gespräch mit der Bundeskanzlerin spontan in Tränen ausbrach, weil der Flüchtlingsstatus ihrer palästinensichen Familie nach Jahren noch immer ungeklärt ist, ist zu Beginn der “Liebeslieder” auf der Bühne zu sehen, sie singt mit einer Stimme, die zum Niederknien ist, mehrere wunderschöne “Hochzeitslieder” aus ihrer Heimat. Dabei erlebt man etwas überaus Ergreifendes:  Der gesamte Theatersaal verfällt augenblicklich in ein so beredtes, geradezu andächtiges Schweigen, aus der die Musik mit einer fast eben noch kindlichen Stimmkraft klar und hell zum Himmel aufzusteigen scheint. Das Mädchen Reem hergeholt zu haben, auf die Bühne, da sie gern singt, ihr einen Ehrenplatz eingeräumt zu haben,  das ist gelebte Toleranz.

Spielt noch 5 weitere Samstage, nicht verpassen – Hingehen!

 

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