Kindermund von Pola Kinski – Rezension
1.10.13 im Konkret Magazin
Der Titel spielt auf den „Erdbeermund“ dem Buch ihres Vaters an, indem er selbst von seinen eigenen Inzesterlebnissen erzählt, kontrastierend dazu kann man an das Sprichwort: „Kindermund tut Wahrheit kund“, denken, der Begriff versinnbildlicht das Schreckliche, was hier passiert ist. Von einem Menschen, der „alle Macht besitzt, sie einfach immer mitzunehmen“. „Mein süßes Püppchen, mein Engelchen“, das sind die wiederkehrenden Liebesbeteuerungen ihres Vaters, gepaart mit unzähligen Küssen und Umarmungen, gegen die sie sich machtlos fühlt, weil er sie liebt. Und wie kann man gegen Liebe, nach der sich jedes Kind sehnt, vorgehen? Ein Kind kann es gar nicht, aber auch einer Mutter fällt es schwer.
Im 14-Tage-Rhythmus ausliefern
Damals war es noch ungebräuchlicher, aber heute würde jede Frau diesem Vater ihr Kind im 14-Tage-Rhythmus ausliefern müssen, das würde sogar jugendamtlich verfügt werden. Man setzt sich also ins Unrecht, lehnt man sich gegen „Liebe“ auf.
Pola Kinskis Buch ist ein Musterbeispiel psychologischer Analyse einer Art von Liebe, die nicht dem Kind angepasst ist, sondern ausschließlich der Befriedigung erwachsener Interessen dient. Nie las man es mit solch präziser Genauigkeit, wie ein Mensch, der seine Liebe zu seinem Kind nur sexuell interpretieren und ausleben kann, mittels seiner Leidenschaftsbekundungen über ein Kind Macht ausübt und vollständige Überwältigung erreicht, innerlich gestrickt ist und welchen Gesetzmäßigkeiten das genügt.
Durch autoritäre Nazi-Erziehung nach außen eisenhart
Sie enthüllt, sie entlarvt, indem sie ihren Beobachtungen nachgeht. Das macht den psychologischen Wert des Buches aus, sie beschreibt an ihrem Vater einen Typus. Sein Charakter entspricht dem einer ganzen Kindergeneration. Durch die Demütigungen und Strapazen autoritärster Nazi-Erziehung nach außen eisenhart und zynisch, nach innen einsam und egomanisch gemacht, mit Hitlers Größenwahn identifikatorisch verbunden, das Unterbewusstsein voll frauen- und menschenfeindlicher Ideologie, Sexualität verschmolzen mit Gewalt, Willensaufdrängung und Funktionalisierung, das Ganze gepaart mit Angst, Selbst- und Fremdhass, was sich in eruptiven Gewaltausbrüchen entlädt. Dazu kommt der Hass dieser Kinder- und Jugendlichen-Generation auf alle und alles nach 45, da man sie so traktierte, so jämmerlich und bitter betrog, so entsetzlich schindete. Dass Pola Kinski es schafft, sowohl in sich selbst als auch in ihrem Vater, aber auch sogar in der Mutter, nicht nur historische Einzelpersonen, sondern jeweils Prototypen zu schildern, ist das große Verdienst dieses Buches.
Zwangsneurosen, Angsteurosen, Magngeschwüre
Das Kind steht dabei für die ahnungslosen Opfer solcher Menschen. Es macht sämtliche Phasen psychischer Verwundungen durch, es erstarrt, stirbt seelisch, beinahe auch körperlich, es vergisst, es erschrickt zu Tode, es entwickelt Zwangsreaktionen, Angstneurosen, Magengeschwüre, gegen die Mutter Aufsässigkeit, weil es da leichter ist durchzukommen, krankmachende Abspaltungen, Todessehnsucht, Verschiebungen von Gefühlen auf die Bedürfnisse, die ihr der Vater zum Trost anbietet: Schöne Kleider, Pomp, Reichtum, Machtausübung gegenüber Schwächeren, wie Dienern und Pagen, später selber aufsexualisiertes Verhalten.
Lehrbeispiel psychoanalytischer Praxis
Was Pola Kinski hier aufblättert, ähnelt einem Inferno, das den gutwilligen Leser bis in die Träume verfolgt. Warum, fragt er sich, erbarmt sich keiner des Kindes, und warum, um Himmels Willen, geht es immer wieder zu ihm hin? In der Beschreibung psychischer Ambivalenz gleicht das Buch einem Lehrbeispiel psychoanalytscher Praxis, es dauert einen so sehr mitzuerleben, wie das Kind sich immer wieder auf den Vater freut, ihm immer wieder entgegenläuft, seine „Liebe“ zu ihm genießt, in den wenigen kurzen Momenten, wo sie nicht brutal und übergriffig, lähmend-auslöschend ist und dann die immer absturzähnlichen, bis zum Exzess gesteigerten Angsterlebnisse, die sie nüchtern um so nachfühlbarer macht. Ein Lehrbeispiel an Kindergeduld, an Mühe der Anpassung, die doch nur so selten erfolgreich ist, an das Einfühlen und immer noch Mitfühlen mit einem grässlichen Psychopathen, welche Arbeit ist es, die ein solcherart gequältes Kind leisten muss!
Mit seinem Mund, mit seinen Fingern
Was mischt sich nicht alles an ihm, dem Täter: Am Essenstisch der wilhelminische Über-Ich-Tyrann in Art von Kafkas Vater, im Bett das nach Zärtlichkeiten lechzende, keine Hemmungen kennende Es, was über sein eigenes Kind im Namen der „Liebe“ herfällt, mit seinem Mund, der das Kind ekelt, mit seinen Fingern, die in das Kind einbohren, mit seiner Zunge, die das Kind quält, tagsüber das überaufgeblasene Ich, was sich entsprechend der aus dem Kleinheitswahn herrührenden und ideologisch eingepflanzten Überheblichkeit zur selbsternannten Gottheit macht.
Warum muss sie immer wieder hinfahren ?
Nur langsam wird deutlich, dass auch Klarheit in dem Kind und der Jugendlichen wächst, in Bezug auf ihn, den Vater, aber auch in Bezug auf die Schule, die Mutter, die Reichen und Superreichen, die ganze hoffnungslose Situation. Noch kann die Protagonistin ihre Gedanken nicht in Worte fassen, ihnen keinen Ausdruck geben, nur nebelhafte Fragen wachsen in ihr: Warum muss sie immer wieder zum Vater hinfahren, mit ihm mitgehen, in seinem Bett schlafen. Sie will das alles gar nicht.
Ein Aufklärungsbuch
Das Buch ist kein Rachebuch, wie die Verwandten ihr vorwerfen, es ist ein Aufklärungsbuch. Wir lernen verstehen. Sie führt uns durch die Entsetzlichkeiten kindlichen Leids und nachfolgender Traumata zweier Generationen, einzig durch nüchternes Beobachten. Beide Generationen sind Opfer ihrer Zeit. Kinski war kein Ausnahmefall, ähnliche Typen gebar die Nazikinder-und Jugendlichen- Kriegsgeneration in Deutschland massenhaft, deshalb kam er auch so gut an. Man fand sich in ihm wieder.
Pola Kinskis Sprache spiegelt Ohnmacht und Reflektion gleichermaßen, sie bleibt meistens nüchtern, wird aber da brutal, wo sie ihren Vater beschreibt. Ein später Akt der Gegenwehr. Einziger Weg der Selbstbefreiung.