Peter Schneiders Wahn
Rezension des Buches : Rebellion und Wahn – Mein 68
Man muss Peter Schneider zugute halten, dass er ein lesbares Buch geschrieben hat, ohne Zynismen, wie man sie von anderen 68-iger-Renegaten gewohnt ist. Ob sein Buch dem Anspruch der Ehrlichkeit genügt, die es postuliert, wäre zu fragen. Denn immer, wenn ein Älterer über den Jüngeren zu Gericht sitzt, kann es zu einer Schieflage kommen. Diese ergibt sich unmittelbar aus dem Grad der Integration des „erwachsen“ gewordenen Schreiberlings in die Gesellschaft. Alice Miller, eine gesellschaftskritische Psychoanalytikerin (Drama des begabten Kindes), hat viel über die „Versöhnungsstrategie“ mit ehemals misshandelnden Eltern geschrieben, wenn diese „Versöhnung“ auf die Verkleinerung einstmals erlittenen Unrechts hinausläuft. In zahllosen ihrer Bücher hat sie dieses Thema beleuchtet. Sie ist dabei besonders auf die krankmachende Wirkung der reumütigen „Rückkehr“ zur Ideologie der Eltern eingegangen. Solcherart familiäres Renegatentum kann sogar zu körperlichen Leiden führen, wie sie in „Die Revolte des Körpers, Fr/M.,2005“ ausführt.
Kein Sprung von der Brücke
Damit die Reue also ernst genommen wird, reicht es nicht, sich selbst abzuwerten, man muss die fortschrittliche Bewegung, deren Teil man war, mit erledigen. Peter Schneider erzählt am Anfang ausführlich, wie stark sein Vater, den er als harmlosen Mitläufer durch die Nazizeit geleitet, die Schwester krankenhausreif prügelt und aus Schule, Haus und Zukunft jagt, ein Wunder, dass ihr nicht das passiert, was einigen anderen der entwurzelten und von ihren Nazi-Eltern aus dem Haus geworfenen Jugendlichen seiner Generation passiert ist, der Sprung von der Brücke. Auch beschreibt er mehrmals, wie verbreitet ein derartiges Vorgehen der damals Älteren gegenüber den Jüngeren war, soll das entschuldigen? Die Nazi“ belastung“ der Elterngeneration wird zwar erwähnt, aber nicht in seiner Konsequenz ausgeleuchtet, wie etwa der fatalen Wirkung des nationalsozialistischen Menschenbildes von Kruppstahlhärte , dass sich mit kindlicher Schwäche nur sehr schlecht vertragen hat.
Das Weinen abgewöhnt
Sein Vater, der Dirigent, sei „sauber“ gewesen, schreibt er, „harmlos“, es hätten nur ein paar Fragen nach den leeren Stühlen im Konzertsaal gefehlt, dann wäre alles in Ordnung gewesen. Das Prügeln der Schwester? Wird nicht mehr erwähnt. Sigrid Chamberlain (Hitler, die Mutter und ihr erstes Kind, 2001) hat sich die Arbeit gemacht, die Auffassung der Nationalsozialisten in Bezug auf Säuglinge und Kleinkinder nachvollziehend herauszuarbeiten. Sie ist da auf Erstaunliches gestoßen. Die erwachsene Bevölkerung der nationalsozialistischen Zeit, die in nicht geringer Zahl Juden mit eigener Hand umgebracht haben, ebenso Kranke und Behinderte, „Hilfsschüler“, in Gasautos gesetzt, ermordet, Heimkinder misshandelt, ebenfalls ermordet, sie waren nicht die netten Eltern „im eigenen Hause“, wie man es oft publiziert findet. Sie haben ihren eigenen Säuglingen und Kleinkindern das Weinen durch Schläge „abgewöhnt“, sie durch eine Menge an „Regeln“ schon in den ersten Tagen und Wochen krank gemacht, ihnen durch ihre Art der Erziehung das Rückgrat stückweise gebrochen.
Den Säugling beim Stillen nicht anschauen
Sigrid Chamberlain analysierte ein Buch über Säuglingspflege von Johanna Haarer, im Nationalsozialismus mit 8 Millionen Auflage verbreitet, und verglich es mit den neuesten Erkenntnissen der Säuglingsbindungsforschung: In jedem Punkt, den die Bindungsforschung heute als entwicklungsfördernd und –notwendig erarbeitet hat, haben die „Ratschläge“ der Nazis das Gegenteil gepriesen. Wo Liebe und uneingeschränkte Zuwendung im ersten Jahr nötig ist, damit sich Urvertrauen ausprägt, schlug Haarer vor, das Baby in ein weit entferntes Zimmer zu verbringen, damit die Mutter durch das „tyrannische“ Schreien ihres Kindes nicht „weich“ würde. Auch sollte sie absichtlich das Baby beim Stillen nicht anschauen, da es dann zu sehr an Zärtlichkeit und Lächeln „gewöhnt“ und also „verwöhnt“ würde, stattdessen sollte es nach 10 Minuten „abgelegt“ und wieder allein ins Zimmer zum „sich ausschreien lassen“ verbracht werden. Wo wir seit vielen Jahren mit Freud sagen, die Reinlichkeitsphase muss freundlich und einfühlsam gestaltet werden, weil sich sonst Sadomasochismus und Zwangserkrankungen ausprägen, schlägt Haarer vor, dem Baby die volle Windel unter die Nase zu halten und laute Ekelmissfallensäußerungen mit kleinen Schlägen zu verbinden. Achtjährige sind gezwungen worden, ihnen ans Herz gewachsene kleine weiche Haustiere, Kaninchen, die man ihnen vorher schenkte, später als Mutprobe mit dem Fahrtenmesser zu töten. Darüber kann man bei Bernd Vesper (Die Reise) nachlesen, bei Erika Mann (Zehnmillionen Kinder), bei Robert Merle (Der Tod war mein Beruf) und bei Sigrid Chamberlain. Die Kinder schienen das Scheitern eines Prinzips zu verkörpern, daher mussten sie bekämpft werden.
Die eigenen Kinder zu Feinden
So wurden ihnen ihre eigenen Kinder zu Feinden, weil sie jegliche Gefühlsäußerung als „weibisch“, „verweichlicht“ ablehnten, mussten Frauen, Mädchen, Kinder ihnen als der Ausbund dessen erscheinen, was sie zu bekämpfen hatten. Um sich herum genauso wie in ihrem Inneren. Haben die weinenden Kinder die „tapferen“ Soldatenväter an die Schwäche und Verzweiflung ihrer Opfer erinnert? Haben sie sich deshalb zum Schlagen und Anbrüllen provoziert gefühlt? Sehr häufig jedenfalls hassten die Kriegsväter ihre Kinder, prügelten sie, beleidigten und demütigten sie, trieben sie in den Selbstmord, brachten sie in die „Klappsmühle“, warfen sie aus dem Haus, enterbten sie und ließen sich lebenslang niemals mehr auf ein Versöhnungsangebot ein. Sie waren so sehr “hart wie Kruppstahl” geworden, dass da kein Mitgefühl mehr war für ihre eigenen Kinder. Und weil es ihnen nicht gelungen war, ihre Kinder zu dem zu machen, was sie sich vorgestellt hatten. Sie prügelten sie so oft, dass die Kinder krank und depressiv wurden, sie beschuldigten sie für jede Lebensäußerung, jede Bewegung, jeden Ton, der aus ihrem Munde kam.
Wegen eines Gedankens, der ihnen kommunistisch dünkte
Die Gewalt der Eltern entstand wegen eines falschen Kleidungsstückes, das zu freizügig erschien, wie im Film Requiem, wegen eines Mannes, der die falsche Hautfarbe hatte, wegen eines kritischen Gedanken, der ihnen „kommunistisch“ dünkte, für all das und noch viel weniger wurden sie geschlagen, enterbt und mit Beschuldingungen überzogen. Das zeigt Peter Schneider indirekt durchaus, indem er seine eigenen Unsicherheiten und Ängste enthüllt, aber er kann es nicht lassen, diese als „selbstmitleidig“ zu diskreditieren und sich über den Widerstand des Jüngeren in einer Weise lustig zu machen, als sei er direkt in die Haut eines der damaligen „Elternteile“ geschlüpft. Und er gibt sich als das damalige Opfer dafür selbst die Schuld. Versöhnt mit dem Eltern-Ich, schlägt er nunmehr auf den Jüngeren ein. Dabei begnügt er sich nicht mit Selbsthass, er zeigt seinen früheren Genossen gleich mit den Vogel. Nicht „verrückt“ im liebevoll-schmunzelnden Sinne sind für ihn Happenings und Bürgerschreck-Provokationen, sondern verrückt im ernstesten Sinne von gemeingefährlich und durchgeknallt.
Volle Entlastung der Vatergeneration
Über die Nachwirkungen des Faschismus sagt er nichts, die unmittelbar der 68-iger Bewegung vorangingen und sie direkt und strafend begleitete: Frisch und munter saßen Massenmörder in allen entscheidenden Ämtern, um über die Taten der RAF ihre martialischen Urteile zu fällen. Eine aufgehetzte, einem irrationalen Weltbild nachhängende, stark antikommunistische Generation, mit der die 68-iger in ständigen, harten bis härtesten Konflikten lebte. Nicht diese waren verrückt, nein, die anderen waren es. Sie gaben sich demokratisch, schüttelten die weißhaarigen Köpfe über die Wirrnisse und Irrtümer der Jugend. Erbost standen sie auf, als die Jugend wagte aufs Katheter zu kacken. Und das Schütteln der Köpfe geriet manchmal doch ziemlich harsch, wenn nicht gar lebensgefährlich. Davon kein Wort. Kein Wort zu Stammheim und der weißen Folter, kein Wort zu § 129 a, kein Wort zu Abhörskandalen. Peter Schneider ist die antiautoritäre Aktion peinlich, meint man, historisch blendet er aus, dass Jahrzehnte der Beengung und Bedrängung hinweggefegt wurden.
Nur weil sie an die Mädchen nicht rankamen
Die Älteren, schreibt Schneider weiter, seien von den jüngeren damals leider oft genug „gedemütigt“ worden. Dabei sei die Politik der 68-iger nichts als ein egoistisches Selbstkonstrukt, nur Partnerprobleme hätten sie gehabt, daher sei alles gekommen, nur weil sie sich nicht an Mädchen heran trauten, seien sie gegen den Vietnamkrieg auf die Straße gegangen. Und Kaufhäuser hätten sie nicht aus Kritik an Großkonzernen, sondern aus privatester Angeberei heraus abgelehnt. Der abschließende Rat an seinen eigenen Sohn, über dem Ganzen aber trotzdem nicht zu vergessen, dass es „manchmal auch nötig“ sei, mutig gegen seine Herren zu opponieren, wirkt leider unglaubwürdig und leer.
Wenn es nicht so traurig wäre
Wie kann ein Mensch derart mit seiner eigenen Vergangenheit abrechnen? Lag es daran, dass die Linke von 68 kaum Vorbilder besaß? Wo waren die Vorbilder der Linken? Wer waren sie? Die meisten von ihnen waren in den KZs umgekommen. Die jungen Linken waren auf sich selbst angewiesen. Über den Faschismus noch größtenteils uninformiert. Das war mit Absicht geschehen. Es sollte alles vergessen sein. Die Kinder sollten nicht aufgeklärt werden, ein Schweigen umgab sie. Aus den Schulbüchern waren die Jahre 33-45 blanke Leerstellen, da stand nichts, da gabs nichts, da hieß es, es sei „leider“ Krieg gewesen, sonst nichts. Diese Jugendlichen sollten nichts wissen, nicht woher sie kamen und nicht, was ihre Eltern getan und geglaubt hatten. Dazu hatte man versucht ihnen jeder erdenklichen Kraft zu berauben, indem man sie unterdrückte und quälte, selbst in solch einer „harmlosen“ Familie, wie der von Peter Schneider, wo die „Systemkritik“ „ganz ungerechtfertigt kränkte“.
Die 68-iger haben vielen Mut gemacht
In meinem Freundeskreis, der bis heute ganz wesentlich aus Menschen der Jahrgänge 40-55 besteht, wurde bei vielen die Prügelstrafe täglich vollzogen, mit Lederriemen, mit Stöcken, mit der nackten Hand auf den nackten Po. Schlagen, Beleidigen, demütigen, klein machen in unvorstellbarem Maße, Wegsperren und tödliche Drohungen waren gängige, allseits akzeptierte „Erziehungsmittel“. Es ist ein großes historisches Verdienst der 68-iger Generation und Bewegung, dass sie trotzdem, mit äußerster Kraft, den engen, stahlharten Bann brach, der um zahlreiche gesellschaftliche Bereiche in Kultur, Pädagogik, Medizin, Psychologie, Wirtschaft und Sozialwissenschaften herumgelegt war und diese Bereiche einengte und ihnen den Atem nahm. Im Sinne einer Humanisierung und Demokratisierung haben gerade diejenigen der 68-iger Generation gewirkt, die durch phantasievolle Provokationen den anderen Mut gemacht haben, sich aufzulehnen, auch wenn sie dafür bedroht und bestraft wurden. Die Mutigsten haben die Gesellschaft entscheidend verändert. Dass sie keine Revolution geschafft haben, dass ihre Rebellion niedergeschlagen wurde, dass ihre Militanz scheiterte, ist politisch zu analysieren.
Warum ein Scheitern?
Wer weiß, vielleicht wird eine zukünftige Generation einmal behaupten, dass es sich nicht um ein Scheitern gehandelt habe. Vielleicht wird sie in einer neueren revolutionären Situation sich einmal all dieser Erfahrungen erinnern wollen. Dazu taugt aber kein Erinnerungsbuch, was nur der Rehabilitation der prügelnden und naziverhetzten Elternmörder und der Disqualifizierung der eigenen Freunde und Mitstreiter als gefährliche Verrückte dient. Schade, Peter Schneider, da hätte Besseres kommen können.