Feuerherz im Volkstheater Rostock – Rezension
Nicole Oder ist der Geheimtipp des Rostocker Theaters, was diese Regisseurin anfasst, ist immer politisch, sozial, kritisch, originell und undogmatisch. Künstlerisch schließt sie sich keiner Masche an, sondern hat ganz ihren eigenen Stil gefunden, der sich dadurch auszeichnet, dass er eine realistische, aber keine Fernsehwelt zeigt.
Ihr Realismus besteht nicht aus Bluteimern, die sich die Schauspieler überkippen, oder Erde am Boden, in der sie sich wälzen müssen, sie vermeidet alle modernen Mittel des Regietheaters, das unter Realismus oft Schockwirkung von Fernseh- und Horrorkultur begreift. Sie orientiert sich eher an Piskator, Brecht und Boal, ihre Bühnenbilder sind einfach, lassen mit wenig Einzelheiten verschiedene Wirklichkeiten assoziieren, erzählen Geschichten, in denen sich durchaus Handlung abbildet und sind immer Parabeln oder Balladen des alltäglichen Lebens am Rande. Insofern sind sie Volksstücke. Sie besitzen immer einen menschlich-nachvollziehbaren, vorbildhaften Kern, der berührt und Beispiel ist. In diesem Sinne sind sie zugleich auch Lehrstücke.
Randgruppen: Menschen, die Vorstellung von Wirklichkeit haben
In Rostock macht die Regisseurin des Erfolgsstücks „Arabqueen“, das seit Jahren erfolgreich in Neukölln gespielt wird, mehrere Stücke. Schon das Stück „Glückskind“ angesiedelt im Hartz-IV-Milieu, wo ein einsamer halbverelendeter Mann ein Kind aus der Mülltonne holt, das sein Leben verändert, ist eine echte Perle sozialpolitischen Theaters in Rostock gewesen. Früher sagten wir, vom Rand her würde die Revolution ganz sicher kommen, nicht mehr vom Proletariat, wie es noch Marx gepredigt hatte, früher waren für uns die „Randgruppen“ die Menschen, die eine ganz klare und eindeutige Vorstellung der Wirklichkeit in unserer Gesellschaft hatten, weshalb wir sie, nach Marcuse als Menschen mit revolutionärem Bewusstsein einschätzten, sie waren permanenter Gewalt ausgesetzt, klar, dass sie sich nie einlassen konnten mit denen, die ihnen diese Gewalt zufügten. Heute sind diese Gruppen Massenerscheinung geworden wie in Weimarer Zeiten, folglich sollten sie auch auf der Bühne eine Rolle spielen.
Sänger spielt proletarischen Jugendlichen
Diesmal hat Nicole Oder erneut ein Stück gewagt, das in den sogenannten Randgruppen (unter verzweifelt-aufmüpfigen Punk-Jugendlichen) spielt. Das Stück verbindet Goethes Werther mit der Punkkultur, konkret mit einer in Rostock legendären Punkband mit dem Namen: Feine Sahne-Fischfilet, deren Sänger hier die zweite Hauptfigur spielt, einen proletarischen Jugendlichen von der Straße. Klingt sehr gewollt, ob das gut geht?
Ich bin eine Bombe
Am Eingang werden Ohrenstöpsel verteilt, das Theater ist drei Wochen nach der Premiere proppenvoll, die meist Jugendlichen, sie nehmen nicht die Ohrstöpsel. Dafür jubeln sie, aber wie, das Stück kommt an, es schafft tatsächlich den Transfer eines 200 Jahre alten Jugendstücks in die heutige Zeit. Als Feuerherz empfindet die Hauptperson W. (Filip Grujic) seinen Schmerz über die Welt, (assoziativ zur Jugendband gleichen Namens?), die unerwiderte Liebe, die Vergeblichkeit seines Strebens. Leben heißt Schmerz aushalten, gegen ihn angehen, verändern, die Energien, die dabei entstehen, zerplatzen in ihm: „Ich bin eine Bombe“.
Punk: Eine Abwandlung der Sprache Goethes?
Die Geschichte wird von seinem Freund Monchi in Rückblende erzählt, der den Abend als ein Konzert ankündigt, dem Toten zuliebe und zum Angedenken. Monchi, der der echte Sänger der Punkband „Feine Sahne Fischfilet“ ist, kontrapunktiert geschickt in seiner Sprache die Handlungen, Stimmungen und die altertümliche Sprache des W., eine kreative Abwandlung der Sprache Goethes. Daraus entsteht eine reizvolle Spannung. Ein Musikprofessor, ein Lehrer, ein Richter und Goethe selbst (Alexander Wulke) treten dazu wiederum in einen Gegensatz, nämlich den der Offiziellen, der Mächtigen, der Autoritäten, bilden die Arroganz der Erwachsenen gegenüber der Jugend ab.
Sterben, Liebe , Leidenschaft
W. dagegen ist in Aussehen und Habitus ein Zitat des Plensdorf´schen jungen W., er kommt weich und mit locker-leicht über den Ohren reichender Haartracht wie ein Jugendlicher der frühen 60iger rüber, mit Parker und umgeschnallter Gitarre galt so einer damals als Ausbund von Aufruhr und anarchischem Revoluzzertum. Die Fragen Jugendlicher in der Adoleszenz werden sämtlich verhandelt: Sterben, Liebe, Leidenschaft, Streben nach Ausdruck, nach Wirksamkeit, nach Erfüllung und der Wahn einer Liebe, die immer angereizt, jedoch nie gewährt wird, zu deren Eroberung und Realisierung dem Protagonisten der Mut und das Selbstbewusstsein fehlt. Denn statt gefördert, wurde er entmutigt, statt gestützt, wurde er herumgeschubst, statt privilegiert zu sein, gehört er zu den Benachteiligten.
Widerstandsgeist, aus dem die Kunst kommt
Eine Kritik an autoritären Verhältnissen und wie sie die Menschen schwächen, schädigen, aber auch einen Widerstandsgeist, aus dem die Kunst kommt, einpflanzen können. Die Kraft des W. reicht allerdings am Ende nur für den Suizid. Es geht also nicht nur um eine unerwiderte Liebe, sondern um mehr und am Ende fordert Monchi selbst das Publikum auf, nie einen Freund fallen oder hängen zu lassen, dem es ähnlich geht.
Missverstanden zu werden ist das Schicksal von unsereinem
Die Punkmusik wurde an diesem Abend Nicht-Punkern richtig gut nahe gebracht, der Text lief, wie bei einer Oper, oben in Weißschrift durch, zB: „Ich pass nicht in Euren Rahmen…“ „missverstanden zu werden ist das Schicksal von unsereinem…“ , außerdem wurden Goetheverse vertont und umgedichtet, das entfaltet, durch die Wutmusik eine große Wirkung! Besonders reizvoll an dem Ganzen ist auch der Detailreichtum der Figurengestaltung, besonders gute Nebenfiguren sind auch die Eltern des W., die als gescheiterte Wendeverlierer angelegt sind, wiederum als Gegenpol zu den kalten und harten Autoritätsfiguren, die die Gewinnerseite repräsentieren.
Werther: Von einem Jugendlichen für Jugendliche geschrieben
Alles in allem ist es wirklich gelungen, ein durchgehend gut komponiertes sozialkritisches Stück für Jugendliche zu kreieren. Mit dem Trick, die Band einen Nachruf für ihn singen und spielen zu lassen und damit das Ganze als ein Stück von Jugendlichen selbst erscheinen zu lassen, ist sehr gut, und genau übrigens, wie es auch der Werther von Goethe selbst damals gewesen war, von einem Jugendlichen für Jugendliche: Sturm und Drang eben.
Suicid: Etwas nicht mehr aushalten können, hat auch etwas Aufrüttelndes
Wann kommt für uns die nächste Sturm-und Drang-Zeit? Könnte nicht schaden, wenn bald, muss auch nicht mit Suizid enden. Ist aber manchmal auch das Ende einer Phase von Widerstand. Zum Beispiel ist die Heimkinderbefreiungsphase in den 68-Zeiten wesentlich durch Massenselbstmorde befördert worden. Suicid: Etwas nicht mehr aushalten können, zeigen, dass man etwas nicht mehr erträgt, nicht mehr gewillt ist, es sich weiterhin gefallen zu lassen, das hat schon auch etwas Aufrüttelndes.