Der Hauptmann von Köpenick im aufBruch Gefängnistheater
Der Hauptmann von Köpenick von Peter Atanassow im aufbruch Gefängnistheater ist keine Rühmann-Komödie, sondern ein Sozialstück. Der Regisseur hat es mit genau den sozial Geächteten und Ausgestoßenen am untersten Ende der Gesellschaft aufgeführt, von denen im Stück die Rede ist, aus deren Mitte kam einst die Hauptperson Wilhelm Voigt und brachte damit bereits 1906 die „kriminelle Energie auf, die Revolutionen ermöglicht!“ ( Peter Atanassow im Programmheft).
Noch immer ist aktuell wie eh und je: Keine Papiere, keine Arbeit, keine Arbeit, keine Papiere. „Der Pass als edelster Teil des Menschen“ (Brecht)
So ist es doch heute noch
Papiere und Arbeit sind auch heute noch untrennbar miteinander verbunden. Die Gefängnis-Insassen-Spieler bringen dies kraftvoll und mit großer innerer Beteiligung zum Ausdruck. (Die Passstellenszene spielten sie so automatenhaft gut, dass sogar einem der Bediensteten während der Proben herausrutschte: „So ist es doch heute noch!“
Aus dem falschen Land
Die Kollektiv-Erfahrung in Heimen, Psychiatrien, Gefängnissen und Flüchtlingsasylen lautet heute wie immer noch: Aus der falschen Familie, dem falschen Bezirk, dem falschen Land, dem falschen Erdteil, mit der falschen Nase, der falschen Barttracht, der falschen Hautfarbe und dem falschen oder fehlenden Pass und dir ist die westdeutsche Normal-Gesellschaft auf besondere Weise versperrt.
Geschickt das Leitmotiv verdoppelt
Reizvoll wird daher der Rollentausch. Nicht nur der des Wilhelm Voigt, der die Seite wechselt, und zum falschen Hauptmann wird, der Bürgermeister und Polizeibeamten festnimmt, auch die der Spieler, die von Gefängnisinsassen zu Staatsbeamten, Soldaten und Polizisten wechseln. Sie spielen nun diejenigen, die sie selbst oft eher nur erleben und erdulden müssen. Geschickt wird so das Leitmotiv im Spiel verdoppelt.
Da kommt es also her, das Zackige
Stechschritt und behördliches Herumkommandieren und Anschnauzen wirkt dadurch doppelt echt. Zuschauer und Spieler transportieren deutsche Geschichte körperlich. Der Zuschauer sieht: Da kommt es also her, das Zackige, Kalt-Gnadenlose der Anordnungen und Gesetze, der Uniformen, der Überheblichkeit und das macht es mit den Menschen.
Der Himmel der Enttäuschten
Gemeinsam mit dem Regisseur und dem Dramaturg wandelte das Team den Ursprungstext von Carl Zuckmayer in eine Text-Collage um und versetzte ihn gelungen mit anderen Autorenzitaten und eigenen Gedankenassoziationen. (Versatzstücke von Brecht (Der Himmel der Enttäuschten), Döblin (Wind weht/Alexanderplatz), Gorki (Nachtasyl), Thomas Bernhard (Amras) und mit einem überraschenden Schlussepilog von Heiner Müller.
Deutsche Kohlhaaskiade
Daraus ist eine aktualisierte Fassung geworden: Sozialkritisch, provozierend, aufklärend. Dem Staat einmal gewachsen sein, ihm im Rollentausch seine eigenes Gesicht vorführen, für eine Gerechtigkeit, die es für Voigt nur noch im Akt der Rache gibt, eine deutsche Kohlhaaskiade.
Unterernährt, verhärmt, anklagend
Ankündigungsplakat und Titelbild stellen den echten Voigt in den Mittelpunkt, sein Gesicht ist das eines bitterarmen Mannes, der mit der Welt abgeschlossen hat, unterernährt, verhärmt, anklagend. Das Programmheft geht der echten Geschichte des Voigt nach, die Lebenssituation der verarmten und unterdrückten wilhelminischen Bevölkerung wird beschrieben. Der Kaiser hat unter dem Druck der Bekanntheit und Popularität der Rathausstürmaktion, den Voigt 1908 schließlich begnadigen müssen, einige Jahre war Voigt als Unterhaltungskünstler gefragt, dann starb er in großer Armut.
Sparsame Bühne im Hochglanz-Edelknast
Der Widerspruch zwischen dem 2013er Hochglanz-Edelknast im abgelegenen Heidering mit Doppeldrahtzaun, in dem die Gefangenen im Glaskasten zu sehen sind und von dort in Flugzeuggängen wandeln können, und dem Drama der Armut, des Zweifels an Polizei und Militär, der Behördenwillkür und deren kurzweiliger Überwindung, könnte nicht größer sein. Das Stück gerade dort zu bringen, ist ein Unterfangen, was durchaus Reiz hat.
Im hinteren Teil des Sporthofs steht die Bühne (Holger Syrbe) mit sehr sparsamer Requisite, aus hartem, rostigem Metall als flacher, dem Gebäude angepasstem Aufbau, dazu aus schlichtem, schwarzen Holz die Andeutung eines Kasernenhofs, rechts, indem sich Luken öffnen, eines Gefängnisses. Verknappungsprinzip: Aus drei Stühlen ein Wirtshaus.
Voigt: Ewig nach dem Pass suchend
Das Team wechselt die Wilhelm Voigts je nach Alter. Ist von seiner Vorgeschichte die Rede, so spielt einer nach dem anderen der Jüngeren den Voigt, sehr gut bringen diese unterschiedliche Fassetten zum Ausdruck: Mal kämpfend, mal verzweifelt, mal nachgiebig, mal wütend, ewig nach dem Pass suchend. Der ältere Voigt wird nur von einem einzigen Mitspieler gegeben, er bringt ihn abgeklärt, trocken, bodenständig und heiser-rauchig berlinisch. Spielend gelingt ihm die Rückbesinnung auf die wilhelminische Zeit. Nun ist er schlau geworden, plant das Bubenstück des Seitenwechsels. Eher Rache als noch immer die Suche nach dem Pass bestimmt nun sein Handeln.
Dass es gelang, das amüsierte seinerzeit die Öffentlichkeit. Den Gefängnisspielern wird es zum kraftvoll gespielten Versuch einer Überwindung von Unüberwindlichem.
Hingehen, anschauen! Rechtzeitig voranmelden!
Spielt heute und die folgenden Termine: 16.–18.9., 18 Uhr, Justizvollzugsanstalt Heidering, Ernst-Stargardt-Allee 1, RE- Bhf. Großbeeren. Letzter Einlass 17.30 Uhr, Karten über Volksbühne, Tel. 24 06 57 77 (tägl. 12–18 Uhr) und Bücherhaus Ebel, Großbeeren, Tel. 03 37 01 36 60 03, Eintritt 14, erm. 9 €