Die Fremde – Rezension – oder warum Sibel Kekilli den Oscar verdient hat.
Wie ein Fremder im eigenen Land, so fühlen sich seit Jahrtausenden Menschen, die nicht mitmachen, was alle machen, Menschen, die zweifeln, wenn andere nicken, Menschen, die nein sagen, auch wenn allerorten „ja“ geschrieen wird, Menschen, die mutig sind, sich gegen den Wind zu stellen, Menschen, die sich wehren und nicht mehr schlucken wollen, Menschen, die sich gegen das Unrecht erheben, auch wenn alle anderen den Kopf in den Sand stecken.
Sibel Kekilli in „Die Fremde“ stellt eine solche mutige Frau dar, sie trotzt den Konventionen und allen Widrigkeiten, mit denen man sie auf ihr Dasein als Eigentum des Mannes beschränken will. Überall muss sie wieder fort und immer wieder sieht man sie, an der einen Hand ihr kleines Kind, an der anderen ihre Reisetasche, im Morgengrauen, eine Straße entlang, ins Unbekannte ziehen. Schicksal nicht nur einer türkisch-deutschen Frau in einer Traditionsfamilie, sondern auch Schicksal anderer alleinerziehender Frauen, überall auf der Welt. Wer versteht diese schon? Rät man ihnen nicht allerorten, lieber beim Mann und Vater des Kindes zu bleiben? Sprechen nicht alle Statistiken von der Armut und dem Elend der Alleinerziehenden, deren Kinder zu viel sich selbst überlassen bleiben, Schuldgefühle entwickeln, zum Elternersatz und zuviel allein gelassen werden?
Hier wird aufgezeigt, wie es dazu kommt. Weit über die Ehrenmordgeschichte hinaus, hat der Film sehr viel Allgemeingültiges zu sagen: In wie vielen Schlafzimmern wälzt sich nachts der Ehemann stumm über die bewegungslos daliegende Ehefrau, er unfähig sich mit ihren Sorgen zu beschäftigen, sie unfähig, ihm ihre Abwehr zu erklären, beide schließlich als Täter und Opfer einer stillen und stummen ehelichen Vergewaltigung und ein Kind, das denkt, das es schuld daran sei. An der Trennung der Eltern, an den Krächen und Wutausbrüchen des Vaters, an dem Leiden der Mutter. In wie vielen Küchen schreit der eifersüchtige Ehemann herum, wenn das Kind zufällig die Wahrheit über einen Termin ausplaudert, den seine Frau ihm kurz vorher anders beschrieben hat? Und warum bleiben nachher oft Alleinerziehende einsam, warum arm, warum will man ihnen auch noch die Kinder nehmen?
Es wurde geschrieben, dass man das alles schon kenne, schon bis zum Überdruss gehört habe, es typisch deutsche Anti-Türken-Klischees und Vorurteile bediene. Das stimmt ganz und gar nicht!
Ein Film oder Stück, ein Text oder Gedicht ist immer dann gut, wenn man sich darin in einer tiefen Weise wieder erkennt, wenn man eine problematische Sache erkennt, die sonst oft unter den Teppich gekehrt wird und wenn er Mut und Entschlossenheit im Kampf gegen diese unter den Teppich gekehrte, verdrängte Wahrheit zeigt. Und in diesem Film kann frau sich wieder erkennen, können wir alle etwas Problematisches erkennen und es wird Mut und Entschlossenheit gezeigt.
Die ausführlichen Diskussionsszenen in der Familie der Frau, könnten ähnlich in jeder Familie gespielt haben, wo Frauen sich nach einer gescheiterten Ehe hin flüchten, das macht ihre Stärke aus. Der Film bestätigt keine Vorurteile gegen türkische Gebräuche, er erklärt sie. Und er erklärt sie gut. Man versteht und denkt nun nach über das Elend, wenn Menschen nicht nur in Traditionen feststecken, sondern auch in Meinungen, die andere festlegen, Meinungen, die ihnen am Hals und im Nacken sitzen, über das, was „man“ zu tun oder zu lassen hat und dem man zu folgen hat, weil man sonst „anders“ wäre und ausgeschlossen, bedingungslos, auch gegen die eigenen Kinder.
Ein Film über das Anderssein, ein Film, der Mut macht, ein Film, indem Sibel Kekilli zu einer großen Charakterschauspielerin wird, die in ihrem Gesicht einfach alles ausdrückt, jeden Gedanken, jede Erkenntnis, jedes kleinste Gefühl und die niemals Maske ist, niemals unecht spielt, so täuschend echt, dass man am Ende meint, man kenne sie schon seit Jahren wie eine allerbeste Freundin. Großes Theater!
Dem Film ist gleichzeitig, vielleicht unbewußt gelungen,das auch Männer, die jegliche tradtionelle Vorstellung in ihrem Leben in familären Rollenerwartungen zu erfüllen haben, ins Blickfeld der Öffentlichkeit zu rücken. Dass die auch daran gelitten haben. Dass da auch welche versuchen und versucht haben, auszubrechen. Es ist wenig bekannt darüber. Es gibt Männer, die in der Männerherrschaft, den Werten und Normen türkischer Kultur wenig Sinn erkennen. Das kam in dem Film gut heraus, besonders als der ältere Bruder am Ende weinte. Manchmal brechen solche Männer auch aus, die müssen auch viel leiden, sowohl unter der Ablehnung einzelner Familienmitglieder, des sozialen Umfelds und innerhalb der türkischen Gemeinschaften. Das ist mir selbst gut deutlich geworden als ich den Film sah, teilweise wie in einem Spiegel, wo die Identifikation mit dem Leid der jungen Mutter selbstreflektierend wirkte. Die wenigen Unterschiede dabei sind, u.a der Ehrenmord. Als Frau wäre es mir genauso ergangen, dass man mich umbringen wollen. Die einzige Möglichkeit ob Mann oder Frau ist die Flucht in eine andere Stadt. Und dann die Suche lebenlang nach der eigenen Identität. Da fällt mir noch Erich Kästner ein. “Wer das Schöne nicht sieht, wird böse, wer das Schlechte nicht sieht, wird dumm” soviel zur individuellen Freiheit, für die jederzeit zu kämpfen gilt. Auch nach dem Ausbruch aus den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen.