Dreigroschenoper – Von ganz unten – Rezension
Die berühmte Dreigroschenoper von Bertolt Brecht (Text) und Kurt Weill (Musik) unter Mitarbeit von Elisabeth Hauptmann im Freiluftgefangenentheater in der JVA Tegel hatte am 12. Juni 2024 eine überaus erfolgreiche Premiere. Die leider nur 12 Aufführungen waren schon 30 Minuten nach Versendung der Premierenankündigung sämtlich ausverkauft. Die Fangemeinde des AufBruch – Gefangenentheaters Berlin schien sich gut vorstellen zu können, dass die Dreigroschenoper von Brecht durch Insassen eines Knastes gespielt werden könnte. Das hat sich bewahrheitet.
In der Dreigroschenoper gibt es drei große Unterschichtgruppen, die jeweils auf bestimmte Weise Wege aus Unterdrückung und Würdelosigkeit suchen: Die Bettler, die Kleinkriminellen und die käuflichen Mädchen. Allen drei Gruppen stehen korrupte Kleinbürger vor, die sie herumkommandieren, ihren Nutzen aus ihnen ziehen und sich selbst für etwas Besseres halten. Der Gangsterboss Mackie und der Polizeichef Jackie sind Blutsbrüder gemeinsamer Morderlebnisse eines Kolonialkrieges und decken sich gegenseitig. Über allem thront noch etwas Höheres: Das Bankgeschäft. Die Aktien. Die Wirtschaft als Machtsystem: „Ich werde in ein paar Wochen sowieso ganz ins Bankfach wechseln“ sagt Mackie, der schon zahlreiche Morde auf dem Gewissen hat. Und wenn Brecht dichtet: Was ist der Einbruch in eine Bank gegen den Besitz einer Bank, dann ist es das eine, aber wenn ein Knastinsasse diesen Satz dem Publikum entgegen schleudert, dann wird hier Stellung bezogen und etwas über unsere gegenwärtige Welt gesagt. Aus dieser sind die Klassenwidersprüche nicht etwa verschwunden, sondern haben sich vertausendfacht, reich und arm sind 100 Jahre nach Brecht durch tiefere Gräben getrennt als jemals. Und nur mühsam wird der Begriff Demokratie, der ursprünglich Volksherrschaft meint, noch verteidigt, da er in praxi vielfach beschädigt, weil synonym mit Kapitalismus verwendet wird. Seine Verteidiger in Amt und Würden, sie schweigen zu den Ungerechtigkeiten des kapitalistischen Raubtiersystems, in dem der eine große Chance hat, der reiche Eltern, reiche Erbschaft, skrupellos und kriminell genug ist.
Brecht und Weill zeichnen, wie es im Programmheft heißt, mit der Dreigroschenoper eine „Symphonie der Unterdrückten“ die das „düstere Porträt einer Welt“ ist, in der „Mitgefühl eine Ware und Tugend ein Luxus ist, den sich nur wenige leisten können“.
Sind wir heute frei davon? Leider nein! Unterdrückung? Mitgefühl? Düstere Welt? Alles noch aktuell. Auch Gefangene in deutschen Knästen haben meist eine lange, bittere Unterdrückungsgeschichte hinter sich. Der Anteil an Heimkindern, Missbrauchsopfern, Menschen mit traumatisierender Kindheit oder psychischen Störungen, sowie solchen mit geistigen Behinderungen, sind in Knästen signifikant hoch. Gefangene haben meist Aggression und Hass, anstatt Trauer und Verzweiflung zum Ausweg aus ihrem Dilemma gewählt. Das schadet. Auch gesellschaftlichsinnvolle Intelligenz wird so, mangels Gelegenheit, meist nicht in Universitäten und Forschungsprojekten umgesetzt, sondern in kriminelle Logistik.
Die Aufführung, das muss ich sagen, sie war die beste, die ich in meinem Leben je gesehen habe. Das hört sich übertrieben an, aber ich will es gern weiter unten begründen. Auch die Musik war beeindruckend. Fünf Musiker der Band 17 HIPPIES, weißhaarige Junggebliebene, begleiteten das Spiel der Gefangenen in sehr passender Weise, überzeugend und variantenreich.
Warum war es so überragend? Warum so gut, warum ging es unter die Haut? Ich versuche ein wenig zu listen:
- Herausragend zunächst einmal Peter Maier als Frau Peachum. Er überzeugte von der ersten Minute an. Einzigartig, wie er die Zigarettenspitze zwischen den Fingern hielt, wie er sich ständig wand und drehte, so etwas Schillerndes, Widersprüchliches, so etwas Leidenschaftliches, Böses, Niederträchtiges, dann auch Rührendes, ich schwöre, auf diese Art gegeben, hat man das noch nicht gesehen. Hier stimmte jede Geste, jede Bewegung, er war ganz in seiner Figur, er hat sie mit Inbrunst und Einfühlung und sehr originell gegeben. Auch schon in früheren Aufführungen, wie zB im Arturo Ui fiel Peter Maier durch großes Spielkönnen auf, er stellte dabei große Schauspieler in den Schatten. Der Applaus war entsprechend.
- Die weiteren Hauptdarsteller waren ebenso überzeugend und gut: Auch Norman als Peachum gefiel mir sehr. Er war in Ausstrahlung und Ausdruck sehr präsent. Passte wie gegossen in die Rolle des skrupellosen Geschäftsmannes Peachum. Er war männlich, kraftvoll, stark, ganz anders als Peachum sonst in der Regel gestaltet wird, wo er meist etwas schlabbrig-kleinbürgerliches an sich hat. Hier stand ein Peachum, dem man Härte, anstrengendes Leben und Gewalt-Leidenschaft abnahm, ohne dass sie übertrieben herausgestellt wurde. Paul E. als Mackie war ein derart schöner Mann, dass das Anhimmeln durch seine Frauen äußerst glaubwürdig wurde. Auch da passte die natürliche Schönheit und Verführungskunst sehr gut zu seiner Rolle. Ein solcher Mann war Mackie Messer, ein jugendlicher Held, den die Frauen umschwärmten. Wie oft sah ich ihn als zerknautschten Alten gegeben, das passt nicht. Atak als Tigerbrown passte ebenfalls sehr gut, es gelang ihm wunderbar, seiner zwielichternden Doppelrolle Glaubwürdigkeit zu verleihen. Nicht schlimm, dass er deutlich älter war als Mackie, Kriegskameraden müssen nicht aus einem Jahrgang stammen. Die Jugendlichkeit des Mackie unterstreicht hingegen seine Energie und seinen Lebens-Optimismus („Ich werde in einigen Wochen ganz ins Bankfach wechseln“).
- Alle Männer, die Frauen spielten, spielten sie nie übertrieben, sie karikierten sie nicht, sie legten keinen Wert auf Glitzer und Glimmer, sie waren nicht aufwendig geschminkt, sie stöckelten nicht steif und maniriert, sie waren nicht bemüht um Eleganz, sie waren keine Drags. Sie waren natürlich, sie waren arm und elend, sie waren ähnlich wie die Bettler. Ihre Kostüme wirkten wie zufällig zusammengestellt, abgerissen, oft herrlich zufällig in Form und Farbe. Und so auch ihr Spiel: Einfach, unprätentiös, wahrhaftig, knapp. Wenn Männer Frauen spielen, da wird es meist zur Karikatur. Hier nicht.
- Die Hauptdarsteller der Frauenrollen, die Tochter von Tiger Brown, Lucie (wunderbar sanftmütig gegeben von Steffen Kahrels), die fallengelassene verräterische Jennny (ausgebufft, ohne jede Sentimentalität und mit großer Würde gespielt von Adrian U., der auch den Pfarrer spielte, übrigens in Gestik und Habitus Dieter Mann ähnelnd), sowie Polly (naiv und köstlich tappsig, Marco), sie sind normalerweise schöne Frauen mit ebenmäßigen Gesichtern und göttlichen Stimmen, internationale Stars. Das Gefangenenensemble steuert bewusst gegen: Die Männer, die sie spielen, spielen ihre Frauen grade nicht als schöne Frauen, sie spielen Menschen, die von Figur und Kleidung eher unvorteilhaft präsentiert werden. Das kommt gut, weil es realistisch ist. In der Elends-Unterschicht ist das Leben kein Honigschlecken. Da sind die Umgangsformen oft rau, man bekommt häufig etwas übergebraten, die Gesichter sind lauernd, ängstlich oder aggressiv, jedenfalls unentspannt, die Nasen sitzen geknickt oder verschoben, billiges Essen ist zucker- und fettlastig, so dass die Figuren aus dem Leim gegangen sind, und man kauft billig, wo die Farben geschmacklos sind. Trotzdem oder grade deshalb, gab eine Spur davon diesen Frauenfiguren ihre Würde.
- „Im Knast ist ganz unten“, sagte einer der Schauspieler nachher im Gespräch. Die Nähe zu ihren Figuren. Was Brecht seinen Schauspielernden erst mühsam beibringen musste, das Proletarische, das Typische, was besonders die aus gutem Hause erst mühsam lernen müssen, das ist hier schon natürlicherweise vorhanden: Die Erfahrung mit einem problematischen, nicht privilegierten, nicht ordentlichen, nicht gemäßen und nicht freundlichem Leben. Wichtig aber an diesem Punkt: Der Regisseur hat das Ausspielen und Einbringen dieser Erfahrungen in das Spiel erst zugelassen und ermöglicht. Er hat es unter den Verdrängungen hervorgeholt, unter denen es sonst versteckt und maskiert wird. Das kann eine große Chance sein, auch der Verarbeitung.
- Und das ist auch die Meinung der Spieler selbst: „Das holt alles Peter aus uns heraus“, wehren die Schauspieler in den Nach-Gesprächen jedes Lob ab, die unschätzbare Empathiearbeit des Regisseurs, aber auch seiner an Auguste Boal und Bertold Brecht geschulten Theaterhaltung hat hier die Passgenauigkeit des Spiels mit ermöglicht. Den Regisseur Peter Atanassow kann man getrost als einen Brecht-Schüler bezeichnen, er versteht sein Handwerk, er gehört zu den Großen, obgleich er das nicht anstrebt, es gelingt ihm immer, in den Köpfen der Zuschauer und Spieler etwas Besonderes in Gang zu setzen, einen Erkenntnisprozess, ein Erschüttertsein über unsere Gegenwart, und ein Nachhausegehen mit dem Drang, etwas in unserer heutigen Zeit verändern zu wollen. Das ist groß, das will der Mensch, er strebt kein billiges Vergnügen im Theater an, das langweilt, er will herausgefordert, berührt und bewegt werden, das ist hier gelungen. Und zwar großartig! Chapeau!
- Auch die Nebenrollen sind allesamt super besetzt, jede eine Figur, die in Erinnerung bleibt, herausragend dabei Münz-Matthias (Yanne), der ein ungeheurer fein abgestimmtes Körperspiel beherrscht. Er schafft es, seiner weiblichen Figur (er spielt auch eine der „Huren“) ein jämmerliches, fast verhungertes Wesen aufzuprägen, und dann in die männliche Figur des Münz-Matthias zu springen, dem erstem Vertrauten des Chefs, dem er ein einmalig schmieriges, misstrauisches und geheimnisvolles Negativ- Gepräge gibt.
Alles in allem hat hier wirklich alles gestimmt: Die Bühne, die Besetzung, die Interpretation, die Musik, die Gesänge, jede Geste und Mimik. Langanhaltende Beifallsstürme hallten auf dem kargen Gefängnishof wieder. Und die Zuschauer hielt es wie festgenagelt. Bei Sturm und Hagel saßen sie auf ihren durchnässten Bänken im Gefängnis-Innenhof von Tegel. Sie sangen zum Schluss mit, sie wippten mit, sie genossen das Gefühl der so gut und passend zum Ausdruck gebrachten Aufführung des 100 Jahre alten Brechtstückes, dass frisch und neu daherkam und in denen viele politische Stellen wie gute und aktuelle Gesellschaftsanalysen unter die Haut gingen.
Diese Aufführung ist auch deshalb die beste, weil uns noch nie Gefangene selbst diesen Spiegel vorhielten in dem ein „Bankrott unter der Fassade der Bürgerlichkeit lauert“. Ein Straßenräuber ist schlimm, er landet im Knast, aber ein findiger Großunternehmer steigt auf und vererbt seinen Kindern Häuser.
Danke an das Gefangenenensamble der JVA Tegel, dessen Aufführung ins Brechtarchiv aufgenommen werden sollte, mit Adrian U., Adrian Zajac, Atak, H. Peter Maier C.d.F., Horst Grimm, Jan M., Khaled H., Kristian, Marco, Mohammad Hassan, Muhammet, Norman, Paul E., Recep, Robin, Steffen Kahrels, Sven, Volkan und Yanne. Ihnen gebührt meine ganze Hochachtung!
Auch den Musikern der 17 HIPPIES ist zu danken: Benjamin Ostarek (Klarinette), Christopher Lastelle (Banjo, Percussion, Ukulele), Orlando de Boeykens (Tuba), Reinhard „Koma“ Lüderitz (Percussion, Saxophon), Volker „Kruisko“ Rettmann (Akkordeon).
Und natürlich Dank an Regisseur Peter Atanasoff und seinem ganzen Team. (Bühne Holger Syrbe Kostüme Anne Schartmann Dramaturgie Franziska Kuhn Musikalisches Konzept und Arrangements Christopher Blenkinsop, musikalische Leitung Gesang Vsevolod Silkin Choreographie Suzann Bolick Produktionsleitung Sibylle Arndt Regieassistenz Nina Flemming Kostümassistenz Xijing Wang Produktionsassistenz David Donschen Technik Lilith Kautt Grafik Dirk Trageser.)
Für die nächsten Vorstellungen, am 20., 21., 26., 27., 28. Juni sowie 2., 4. und 5. Juli 2024 jeweils um 17.30 Uhr gibt es zum größten Bedauern aller Beteiligten nur noch Plätze auf einer langen Warteliste.
Anja Röhl