Verstehen Sie Bahnhof – Rezension

Fallobst heißt die Musiktheater-Laienspielgruppe in Potsdam, die schon seit Jahren zusammen Theater macht. Titel ihrer meist komödiantischen Stücke sind: „Fröhliche Ex-Frauen“ (2014), „giftige Schwestern“(2015) und „Mord im Rampenlicht“(2017), aber auch „Alcatraz- der Kreuzfahrtknast ( 2018) und „Aussortiert“(2023). Die Laien können es dabei durchaus mit professionellen Spielern aufnehmen. Was die Freude am Spielen, die Leidenschaft, das Engagement angeht, sind sie vielen Schauspielern überlegen. Professionalität haben sie sich in all diesen Jahren durchaus angeeignet. 

Am 19.4.24 brachten sie nun das Stück: „Verstehen Sie Bahnhof“ von Paul Reul.

Das Stück beginnt früh morgens mit einem armen Obdachlosen, der in einer Ecke liegt. Ein Bahnhof erwacht. Nacheinander treten Personen-Ensembles auf, deren Geschichten intermettierend durch das weitere Stück tragen. Ein mittelaltes Paar sucht ständig den alzheimerkranken Vater, eine türkische Mutter sucht ihre Tochter Fatima, die aber freier leben will als sie, und sich in einen Spanier verliebt, eine Frau holt ihre Freundin ab, die zu spät kommt, und sich wenig einfühlsam zeigt. Im Komödienablauf finden sich ständig Brüche, die unspektakulär Probleme sichtbar machen. Lehrerin versucht mit ihrer Referendarin eine Klassenreise zu organisieren, der Referendarin gehorchen die Kinder nicht, im Gegenteil, alle bilden einen wütenden Kreis um sie und stimmen das Lied an: We don’t need no education“, leider rächen sie sich an der falschen Person. Wie so oft entlädt sich Wut nicht an der Autorität, von der sie ausgelöst wurde, sondern an den schwächsten Personen. Eine strenge und raue Schaffnerin verliebt sich in einen abgerissenen Straßensänger, den sie sogar vor der Security rettet, eine Konzerntochter will lieber Globetrotter sein und erfindet merkwürdige Reiseabenteuer, ein Geldkoffer reizt die Gier aller nacheinander an, das Geld darin entpuppt sich als Spielgeld. Eine bunte Mischung von Liedern trägt das Stück, die meisten haben einen emanzipatorischen Charakter, sie werden von den Laien selbst gesungen. Auf Playback, aber mit großer Leidenschaft!

Zu Beginn noch etwas flirrend, da ein unglaubliches Personnenwirrwarr, wird zunehmend klar, welche Probleme an diesem Tag auf dem Bahnhof gelöst werden müssen. Am Ende wird „alles gut“ und die Liebe als unbesiegbar besungen.

Der innere Gehalt der rasenden Komödie besteht aus einem leisen gesellschaftskritischen Unterton, der dem Witz in den Szenen Tiefe verleiht, das Gripslied „Warten“, dass schon ganz zu Anfang eingefügt wird, mit seinem sehr poetischem und politischem Text, betont diesen Aspekt. 

Die Darsteller aber geben alles! Sie spielen sich restlos aus, es gibt keine Person, die blass spielt, zu leise ist, oder nicht professionell wirkt. Die wunderbare Regie der Anja Panse, die schon zahlreiche tolle Stücke auf die Bühne brachte ( Moralinsüss, Rosa Luxemburg, Clara Zetkin uvm), hat hier wieder eine sehr gute Arbeit abgeliefert. Ihre immer recht flotte, ganz besondere witzig-leidenschaftliche Inszenierungsart krankt nie an dem, was grade sehr im Trend anderer Aufführungen liegt: Grauschwarze oder grellbunte Farben in Bühne und Kostümen, ständig überlagernde  Videoabspielungen, entweder kein oder ein übertrieben volles Bühnenbild, hartstrenge Gesichter und Haarfrisuren, gebellte und gebrüllte Sprechsequenzen, alberne, übertriebene Emotionen – das alles gibt es hier nicht. Anja Panse inszeniert weich, natürlich, ausdrucksstark, sie bringt wenige typische Exponate auf die Bühne, sie gibt den Spielenden jede Möglichkeit sich selbst im Spiel nah zu sein, das ist wirklich große Regiekunst, nachzulesen bei Brecht und meines Erachtens momentan in Berlin sehr selten. In ähnlicher Art inszenierte früher oft das Grips und heute sehr gut auch Athanassow im Gefängnistheater aufBruch.  Ich habe mich köstlich amüsiert, musste gleich zweimal reingehen und konnte daher doppelt den frenetischen Beifall bewundern, mit dem das Publikum im restlos ausverkauften Theater vor Begeisterung tobte. 

Leider wurde das Stück nur an einem Wochenende gespielt, aber man kann sich auf das nächste Jahr freuen und – noch viele weitere aktuelle Stücke von Anja Panse anschauen, lohnt sich! 

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