Flüchtlingsreise im Heimathafen Neukölln: Das Herz der Finsternis
Eine interessante Reise kann man derzeit mit dem Theater der Migranten und dem Heimathafen Neukölln, ausgehend von einem alten Speicher am Flurgraben 3 bis in die finsteren Gefilde im östlichen Zipfel Neuköllns machen, wo durch Autobahnkahlschlag nur noch Schrottplätze mit Gewerbe abwechseln.
Die Spieler des Migrantentheaters erwarten einen zunächst in einer alten Fabriketage, wo jeder Zuschauer einen Parcours mit einem Zettel in der Hand an gedachten Beamten entlang laufen muss. Diese empfangen einen jeweils mit Fragen wie: Wo kommen Sie her? Nehmen Sie Drogen? Essen Sie gern Kartoffeln? In welches Land wollen Sie? Und am Ende steht einer und vermisst Gesicht und Schädel und fragt: Gab es in Ihrer Familie Fälle von Wahnsinn?
Wohin? Warum?
Dabei werden verschiedene Beamtentypen karikiert, der ernst-sachlich schauende ohne Reaktion, der arrogant schauende, der böse und drohend auftretende, usw. am Ende, als alle sitzen, kommt noch einmal einer, kommt jedem sehr nah, fragt: Wohin? Warum? Zu zwei sehr verschieden Aussehenden: Seid Ihr Zwillinge? Arrogantes, weißes Verhalten ist hier Thema, das geht bis auf vormalige Jahrhunderte zurück, Joseph Conrad thematisierte es 1899 in seiner Erzählung: Herz der Finsternis, in dem er anlässlich einer Schiffsreise durch den Dschungel einige Wahrheit über die Kolonialisierungsgräuel zutage beförderte. Dieser Stoff wird nun hier in einer modernen Performance-Adaptation mit den Problemen heutiger Migration verwoben. Gleichzeitig wird das Publikum (begrenzte Plätze, festes Schuhwerk, Jacken und Pullover mitnehmen!) auf eine Reise geschickt, die entfernt sowohl der Reise, von der in der Conrad-Erzählung Marlow berichtet, als auch den Reisen ähnelt, von denen die heutigen Migranten berichten, wenn Sie durch ihre kriegsverheerten Länder ins rettende Europa fliehen. Wofür steht heute Finsternis? Bei Conrad war es die Hautfarbe, das Unbekannte, das düstere Abenteuer, der Tod, für die Migranten ist es Europa und seine Verbrechen, die sich jenseits der Grenzen abspielen.
Ein Boot, das muss getragen werden
Nachdem sich die Beamten in der Fabrikhalle in einem schwarzen Tanz im Gegenlicht auflösen, muss das Publikum helfen aus einer auf dem Boden liegenden Plane etwas zu falten. Ein Boot! Dies muss nun getragen werden, das hat das Publikum zu tun und damit beginnt die Reise. Eine junge Frau, angezogen wie eine Reiseleiterin spielt den Marlow und erzählt und zitiert aus dem Conrad, sie begleitet die „Reisegruppe“, die das Publikum, nun selbst mitspielend, vorstellt. Zunächst geht’s unter Gestrüpp am Rande des Landwehrkanals zu der Wagenburg Lohmühle, wo man eine Art Schutztruppe zugewiesen bekommt, ein weiß uniformierter General befehligt sie, von da geht’s weiter, bis man zu einem phantasievoll gebauten Holzfloß kommt, wo alle sich ein Plätzchen suchen, die Spieler aber sich vom Ufer aus durch das Lied: Musidenn, mussidenn zum Städtele hinaus verabschieden, von nun an nur noch wie Puppen ab und an am Ufer sichtbar werden und die Schiffahrt bis zum Schluss begleiten. Während der langsam-schleichenden „Flussfahrt“ geht’s zunächst an den schönen Neuköllner Häusern vorbei, an Liebespaaren, die am Ufer liegen, Lagerfeuergruppen rufen freundlich und rechts und links werden Bilder aus Afrika so geschickt ans Ufer projiziert, dass man glaubt, hier laufen tatsächlich Hyänen lang.
Wüste, Hunger, Durst
Auf dem Schiff angekommen, dürfen sich alle setzen und zuhören, ein Migrant erzählt in einer Endlosschleife die traurige Geschichte seiner Flucht. Wüste, Hunger, Durst, Verhaftetwerden, Schleppergelder, so zieht er durch die Länder der ehemaligen Kolonien, die nun schon wieder durch die Weißen verwüstet und verheert worden sind. Das Schiff schleicht und ab dem Estrel-Hotel wird es immer dunkler. Das Licht auf dem Boot wird ausgemacht und immer dunkler wird auch das Ufer, das nun keine Häuser mehr hat, nur noch Schrottwüsten.
Das Sterben der Weißen
Endlich hält das Boot an, man wird zum Aussteigen aufgefordert und ein weiteres Teilstück des Spiels beginnt: Die letzte Conradsequenz vom Sterben der Weißen. Zumindest des Weißen im Conrad-Buch. Mühsam muss das Publikum zwischen Dornengestrüpp und knietiefen Brennnesseln und entlang von Schienen mit dem Boot auf den Schultern seinen Weg finden. Schlusspunkt der Reise nach einem mühevollen Aufstieg durch einen Gewerbehof ist ein Flüchtlingsheim. Es liegt abseits aller Zivilisation, dort wird dem Publikum ein kleiner Teich mit Bänken gezeigt: Das Paradies. Skuriles Tanzen zu Trommelwirbeln bildet den Abschluss.
Eine winzige Ahnung
Ein Abenteuer mit bitterem Beigeschmack. Dem Publikum wurde der Spiegel vorgehalten, eine kleine großstädtische Mühe musste überwunden werden, die unheimlich und anstrengend war, eine winzige Ahnung kann man mitnehmen von dem, was die Menschen hinter sich und selbst überwunden haben, ihre Schmerzen, ihre Verbitterung, ihre Wut. All das wird auf mehrere Weise gebrochen gut dargestellt. Geht unter die Haut.
An der nächsten Ecke noch ein Bus?
Wo geht’s denn hier zum nächsten S-Bahnhof?, fragt eine Frau nach dem Stück, „Ich glaube, um 8 Minuten nach 12 geht an der nächsten Ecke noch ein Bus“, lautet die Antwort, die wohl zum Stück gehört. Ins Heim musste man über mehrere Leichen oder Schlafende steigen. Nun muss man selbst seinen Weg zurück durch die Industriebrache finden. Ich hatte ein Fahrrad dabei und war im Sommerkleid, das erste war auf dem Weg beschwerlich, nachher aber ein Segen, das zweite erwies sich als ungeeignet.
Ein Hoch auf das Migrantentheater und den Heimathafen Neukölln. Sinnlich und körperlich fühlbare Einbeziehung des Publikums zur Einfühlung in Flüchtlinge, humoristisch, satirisch, mit immer überraschenden Wendungen. Das sollte man mit jeder Schulklasse einmal machen!