Parcelle Paradies Rezension
junge welt /14.9.10
Geschichten von hier« wollte das Deutsche Theater Berlin zur diesjährigen Saisoneröffnung erzählen. Bis Sonntag gab man ein kleines Theaterfestival namens »Parzelle Paradies«. Der Titel stammt von Annett Gröschner, die so ihre Berlin-Reportagen-Sammlung genannt hat, die 2008 im Nautilus Verlag erschienen ist. Um genau zu sein, ist der Titel einem Theaterstück entlehnt, das die Autorin einst besprochen hatte und das in einer grenznahen Kleingartensiedlung (Bornholm I.) in Berlin-Prenzlauer Berg spielt und von anarchischen Ostberliner Zuständen nach 1989 kündet: Stacheldraht braucht man erst dann, wenn die Widersprüche durch die Zäune brechen.
Im DT, in dem Gröschner selbstverständlich vortrug, braucht es erst mal keinen Stacheldraht, in Anja Hillings Stück »Schwarzes Tier Traurigkeit« in der Inszenierung von Jorinde Dröse bleiben alle Protagonisten so flach und leer wie ihre Lebensentwürfe. Einige typisch bürgerliche Mittelständler picknicken im Wald und zündeln an ihren kleinen, privaten Beziehungskisten. Doch ihr apokalyptisch bebilderter Schmerz-Ästhetizismus beschwört nichts als Distanziertheit herauf. Wenn also hier was sichtbar wird, dann das Altbekannte, das aber Tschechow und Gorki schon viel besser auf die Bühne gebracht haben, nämlich die Leere des gutbürgerlichen Lebens, das erst Tiefe bekommt in Schmerz, Krieg, Zerstörung. Und deren Protagonisten daher unablässig davon träumen, diese grausame Tiefe herbeizuführen, weshalb sie die am liebsten in Filmen, Theaterstücken und fernen Ländern goutieren. Allerdings wird bei Hilling Grausamkeit und Ekel nicht aus dem Afghanistan-Krieg entwickelt, sondern aus einem Grillfest, dass in einen Waldbrand ausartet herbeigeholt. Das Fazit, »Der Hunger nach Liebe ist größer geworden«, hat schon deshalb keinerlei Erkenntnisgewinn, weil von Liebe nirgends etwas zu spüren war.
Dagegen verbinden die Stücke »Die Nacht, die Lichter« von Clemens Meyer (in der Regie von Sascha Hawemann) und »Die Sorgen und die Macht« von Peter Hacks (in der Regie von Tom Kühnel und Jürgen Kuttner) Klassenbewußtsein und politischer Aktualität. Das Meyer-Stück wurde so angekündigt: »Will man eine Stadt verstehen, dann muß man sich ihr vom Rand her nähern. Erst da, wo die Städte ausfransen, begegnet man jener Wirklichkeit, wie sie in den Hochglanzzentren kaum wahrzunehmen ist.« Dementsprechend ist die Bühne als Wohnboxbunker gestaltet, hinter Vorhängen blickt das Publikum in drei identische Plattenbauwohnungen, die Einzelzellen in einem Knast nicht unähnlich sind. Ein Betrunkener, in einem Meer von leeren Bierflaschen und offenem Kühlschrank, erhält nicht nur Briefe vom Arbeitsamt, sondern auch von einem alten Schulfreund. Dieser »hat es geschafft« und schreibt aus Kuba und Brasilien, wie um an die berühmten Reisemöglichkeiten zu erinnern, das letzte Traumbild, das im Osten vom Mauerfall noch übriggeblieben ist. Diese Sehnsucht kann der Schulfreund aber auch nur Dank seiner alten Leidenschaft für Briefmarken befriedigen. Ein anderer hat sich mit einem Dobermannhund über den Verlust seiner Frau getröstet, zwei Kleingauner treiben durch die Nacht, sind in ihren Taten gegen alle anderen und ein wenig füreinander da, ein Pärchen kommt nicht zueinander, da die keine Worte mehr für einander übrig haben. Es wächst eine Klasse, die alles verloren hat, nichts mehr produziert, kaum ihre Einraumwohnungen verläßt, im Ganzen überflüssig scheint, deren Wut aber in anschwellendem Geheul zu bemerken ist. Die Bilder und Dialoge sind sehr ökonomisch angelegt: Man hat sich ewig nicht gesehen, trifft sich nur zufällig, da jeder aus Scham nicht mehr rausgehen mag, man schweigt und spricht in Brocken. Eine neuzeitliche Dostojewski-Atmosphäre gelingt ohne viel Worte. Der Hund ist so genial wie der Reklamebär, Symbol der wenigen, irrwitzig-unnötigen Jobs, die noch im Angebot sind; genial kleine Einsprengsel wie: »…er wandte sich Richtung Osten, wo er wohnte«. Am Ende der erhellten Nacht, durch die das Publikum von Szene zu Szene zu denen geführt wurde, die man sonst nicht so sieht, werden alle Protagonisten von einem orange gekleideten Reinigungsmann aufgegabelt, Bahnhof und Straßen werden von den Überflüssigen gesäubert.
Dieses Stück sollte man allerorts vor den »Rewe«-Kaufhallen aufführen und zwar exakt um 20 Uhr, zwei Stunden vor Ladenschluß, wenn die verarmten Menschen, die nicht gesehen werden wollen, hinein- und hinausströmen. Ein Verdienst des DT, immerhin dies noch gebracht zu haben, das wäre in München nie möglich gewesen, um mit Peter Hacks zu sprechen.
In den Münchner Gemeindehäusern sollte man am besten Hacks spielen. Damit endlich einmal deutlich wird, daß dessen Goetheverehrung nichts mit bürgerlicher Goetheverehrung zu tun hat. Im DT ist die Bühne des in dieser Zeitung schon besprochenen Hacks-Stücks »Die Sorgen und die Macht« dann auch ein zweckentfremdetes Juno-Zimmer im Goethehaus in Weimar. Bei der großen Hacks-Diskussion am Sonntag vormittag widersprach Regisseur Kuttner der konservativen Hacks-Interpretion, die am Hacksschen Werk die Unmöglichkeit der Realisierung eines Sozialismus aufzurollen versucht. Kuttner stritt heftig mit dem Journalisten Jens Bisky, der von Hacks nicht anders als abwertend sprechen kann. Zuerst nannte er ihn kitschig, dann verknöchert, erstarrt, arrogant, verbohrt oder stalinistisch. Gleichzeitig möchte er ihn aber als ein vielfältiges Sprachgenie gleich nach Goethe sehen. Kuttner wehrte sich gegen eine Aufspaltung von Hacks in den politischen und den literarischen, den frühen DDR-kritischen, und den späten BRD-kritischen, angeblich senilen. »Nein«, sagte er, »ich habe Hochachtung vor Hacks Standfestigkeit nach 1990«. Der sei für ihn auch weder pop- noch poststalinistisch. Kuttner bevorzugt eine ganz andere Form der Ironie. Für ihn ist das 1962 erstaufgeführte Stück, das die DDR von links kritisiert, eher Zukunft denn Historie, denn wo hat man das heute noch, selbstbewußte Arbeiter, selbstbewußte Frauen? Als wir probten, sagt er, »gab es gerade den tausendsten Bankencrash«, so eine Wut habe ihn erfüllt, da habe er gewußt, warum er Hacks aufführen wollte. Bisky hat dagegen die nichtkommunistischen Marx-Rezipienten am liebsten.
In Georg Seidels spätem DDR-Stück »Carmen Kittel oder ›Ich wünsch mir Sonnenstrand‹« (Regie: Niklas Ritter) gab es eine Szene, in der sich Gegenwart und Zukunft sozusagen gegenüber sitzen – es war die einzig lohnenswerte in diesem Werk über das Schicksal eines Heimkindes, in dem von einer Heimproblematik leider keine Rede ist. Aber heute soll ja immer alles Gegenwart sein, vermutlich, um sich vor der Zukunft um so mehr ängstigen zu können, statt irgendwelche Anstrengungen zu unternehmen, in die Gegenwart einzugreifen. »Kapitulation« von Frank Abt ist ein sogenanntes Rechercheprojekt, ein Interview-Theaterstück, der neueste Schrei des modernen Realotheaters. Bearbeitete Alltagsgeschichten und -Biographien, in Interviews von Journalisten abgefragt, von Unbekannten abgeschrieben, von Regisseuren gekürzt und montiert. Diese Regisseure kommen dann wie Abt zu Pointen wie diesen: »Leben ist alles Mögliche (…) zum Glück auch Glück, es ist Herausforderung, verbunden mit Schwierigkeiten, die ich zu bewältigen habe«. Und selbstverständlich bleibt er realobescheiden: »Es gibt keinen Vertrag mit irgendwem, der sagt: Ich habe das Anrecht darauf, glücklich zu sein«. Das ist leider nicht der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit.