Simplicissimus im Acudtheater – Rezension
jw Feuilleton/10.9.12
Mit geringem Budget greift das Zygmunt-Wolski-Theater im Berliner Acud am Ende des Sommers einen ungewöhnlichen Stoff auf, den Dreißigjährigen Krieg im Abbild der Geschichte: Der »Simplicissimus« von Grimmelshausen.
Die Geschichte dreht sich um einen kleinen Viehjungen, der durch das Miterleben des Abbrennens seines Vaterhauses brutal in die Welt der Erwachsenen geschleudert wird, später von einem Einsiedler die Bibel erklärt bekommt und sie nachher allzu wörtlich nehmen will.
Manch bittere Pille
Eine Geschichte, die fälschlicherweise als »Schelmenroman« firmiert, in Wahrheit aber höchste Gesellschaftskritik enthält. 1668 gedruckt und verbreitet, beschreibt die Lebensgeschichte eines gutgläubigen Jungen aus dem Volke eine Zeitspanne von über 50 Jahren. Es herrschen Krieg, Verelendung, Verrohung, Betrug, Vorteilsdenken, Korruption und Hungersnöte. Das alles dezimiert und demoralisiert Menschen, traumatisiert Kinder und verödet die Zivilisation. Nicht wenige verlieren den Verstand und werden zu willfährigen »Schafen«, mit denen man alles machen kann, oder zu sadistischen Gefolgsleuten und Soldaten. Auch auf diesem Blutsumpf basiert unsere Gesellschaft. Grimmelshausen sagt dazu: »Man muß manch bittere Pille verzuckern, bevor sie geschluckt werden kann«, und machte daraus einen Stoff, der schelmisch sein konnte, trotz der unbeschreiblichen, nicht enden wollenden Grausamkeiten. Im engen Hinterhof des Acuds wird die Balance zwischen der klugen Einfalt des Viehjungen und der Tragik seines Lebens durch alle Widrigkeiten psychologisch klug und politisch-analytisch gut getroffen. Die strohbedeckten Balkone zum Hinterhof, in dem das Theater Platz hat, verbinden sich bestens mit dem historischen Stoff, entsprechend eines armen Volkstheaters der damaligen Zeit, bei dem die Requisiten in einem fahrenden Wagen lagern.
Einfalt dicht neben Verzweiflung und Trauer
Bei Einlaß stehen die Spielenden wie Statuen mit Plastik verhüllt, zu Beginn schälen sie sich aus den Verhüllungen. Drei Schauspielerinnen sinnieren aus dem Abstand der Jahrzehnte. Sie schwärmen vom einstigen Viehhüten. Der Junge, der erwachsene Lebemann, der alte Verelendete, alle drei schauen empor zu den Balkonen, auf denen sich dann die Geschichte in Rückblenden entrollt. Größtes Highlight dabei ist Sabine Roßberg als Viehhirte und junger Mann. In bezaubernder Weise gibt sie die Einfalt, die so dicht neben der Verzweiflung und Trauer sitzt, aber auch den Witz, die Wut, die Kraft und die Lebenslust des unschuldigen Jungen, der nichts anderes als staunend auf der Welt ist. Ihm wird von einem weisen Einsiedler die Bibelkunde aufgezwungen; er macht daraus eine eigene Ideologie, die voller Gerechtigkeit und Logik ist, aber allem Herrschenden widerspricht. Deshalb wird er bald mit der Macht in Konflikt kommen und zum Kalb gemacht, was bedeutet, daß er einer äußerst brutalen Foltermethode unterzogen wird. Roßberg bringt es fertig, das Kind mit äußerster Präzision authentisch zu geben, und dabei das Tragische wie das Witzige wie bei Shakespeare auszubalancieren.
Detailgetreu und doch mit Abstand
Das Zygmunt-Wolski-Ensemble unter der Regie von Felix Goldmann schafft es, den historischen Stoff so aufzuarbeiten, daß einem die Parallelen offensichtlich werden und trotzdem der Eindruck bleibt, man säße im 17. Jahrhundert in einem engen innerstädtischen Gebäude und schaue einer fahrenden Spieltruppe zu. Episches Theater pur. Dazu wunderschöne mittelalterliche Musik, vorgetragen von Sybille Roth und Anders Kamp, die, sparsam eingesetzt, die Stimmung detailgetreu historisch hält und dabei doch den Abstand wahrt und immer Spiel im Spiel bleibt. Die stärksten Szenen sind die, wo der Viehjunge sich gegen seine Erwachseninitiation mittels Folter und Desillusionierung wehrt, indem er die Bibelgebote: »Du sollst nicht töten« ernst nimmt und immer wieder den angeblich so gottgläubigen Schlächtern an den Kopf wirft.
Kirchenkritik, Kritik am Militarismus und Kritik am ewigen Vorteilsdenken einiger weniger gegen die Mehrheit der Ausgeplünderten steht hier im Mittelpunkt der Interpretation und erinnert an die Gegenwart. Unbedingt empfehlenswert.
Nur noch bis zum 14.9.12, Acud-Theater Berlin