Ständig wie Stiefel im Gesicht – 1984 im aufBruch Gefängnistheater – Rezension

Foto: Thomas Aurin
1984 nach George Orwell im aufBruch Gefängnistheater mit dem Ensemble Plötzensee und einige Gedanken zur augenblicklichen Lage des Theaters

1984 nach George Orwell

1984 nach George Orwell ist eine düstere Dystopie in schwarz weiß, vielmehr in schwarz-grau, mit gleichgeschalteten Menschen, die wie Maschinen sind, Gesichter, die im Chor von einer Leinwand schreien: Hass, Hass, Hass, wie eine  Beschwörungsformel und eine Gesellschaft, in der Unterdrückung, ständige Beobachtung durch den Geheimdienst, Folter und Krieg herrschen, und wo das Gefühl vorherrscht, dass „ständig Stiefel in ein Gesicht treten“. Es ist eine Welt, in der die Angst regiert. Auch im Knast und unter denen, die dort einsitzen, herrscht oft Gewalt, Unterdrückung und Angst. Auch gehören Angst, Hass, Wut, Unterdrückung und Gewalt zu den Gefühlen, die viele der Straffälligen von klein auf kennen, aus ihren oftmals disfunktionablen Familien, aus ihren sozialen Getthos, aus ihren Diskriminierungserlebnissen auf der Straße und in der Schule. Das Stück eignet sich also, um es im Knast spielen zu lassen. 

Das Gefängnistheater Aufbruch hat sich die Inszenierung des Stückes „1984“ von George Orwell in der JVA Plötzensee vorgenommen, just zu einem Zeitpunkt, wo bei uns erstmalig eine rechtsradikale Partei im Aufstieg begriffen ist und vorauseilende Sparmaßnahmen im Kulturbereich das langjährig erfolgreiche  Theater selbst vernichten wollen. Kultur mit Ausgegrenzten ist nicht mehr erwünscht, was sie zu sagen haben und künstlerisch ausdrücken, soll nicht mehr existieren dürfen. 

Das Bühnenbild ist ein nüchterner weißgrau-viereckig abgezirkelter Raum in dem einige Stühle hin und hergetragen werden. Es ist der Spielraum des Stückes, aber gleichzeitig auch Ausblick auf zukünftige Zeiten: Farblos, kulturlos, düster. Hinten an einer Wand laufen Filmsequenzen. Menschen laufen auf Straßen. Ein Mann schreibt auf eine Türtafel: 2×2=5, aber er kann das nicht,  er streicht aus, er will die Wahrheit schreiben und nicht die Lüge. Aber nur die Lüge ist erlaubt. 

Winston Schmidt ist ein Naivling, er zweifelt, und gefährdet sich damit. Er ist auch neugierig und fragt herum. Beides ist nicht erwünscht, er wird festgesetzt, es wird ihm weh getan. Seine Individualität trennt ihn von anderen, macht ihn den anderen fremd und einsam. Er bleibt lange der Einzige, bis er auf Julia trifft. Julia und er konnten sich nur erkennen, da sie beide schon zweifelten. Aber Liebe ist ebenfalls nicht erwünscht. Und wird verunmöglicht. Die Versuche, sie zu leben, scheitern. Die Geschichte ist düster, aber das Ensemble bricht diese Düsternis auf. Durch Schlager, durch Witz, durch ausdrucksstarkes Spiel. Ihr Beharren auf individueller Freiheit wird körperlich stark auf die Bühne gebracht, die Spieler kämpfen, die Zweifler geben nicht auf, das überaus authentische Spiel hält das Publikum in Atem. Glänzend in allen Rollen: Winston, gespielt von Harun, aber auch Alain, Tailor, Ilyas, Sadam, Mike Hermann und Steven Mädel, als Julia  verkleidet. Wunderbar einfach und mutmachend wird als Akt des Widerstands ein proletarische Gassenhauer angestimmt, der Gittesong: Ich will alles, ich will alles und zwar sofort!..zum Schluss tritt noch Thomas Brasch auf, auch er ein Winston Schmidt, noch dazu mit einem Vater, der ihn selbst ins Gefängnis warf.  Der aus der DDR gezwungene Schriftsteller, zitiert von der Bühnentreppe aus seinem 1977 erschienenem Buch „Kargo“ eine Pionierleiterin, die glaubt, ihren Vater umgebracht zu haben: Ich habe nie an das geglaubt, was ich den Kindern erzählt habe. Von wegen der schönen Zukunft und so. Ich war nie mit dem Herzen dabei. Das aber ist in Wahrheit das alleinige Ziel: Die Unterdrückten sollen die ihnen aufgezwungenen Lügen nicht nur herausbrüllen und repitieren, sie sollen wirklich an sie glauben, das wird verlangt und solange hört die Gewalt gegen die Abweichler nicht auf.  Lehre daraus: Machthabern reicht es nicht, ferngesteuerte Wesen zu produzieren, die nur Sklavenarbeit leisten, das birgt zuviel Gefahren, sie müssen sich des Inneren der Personen bemächtigen, ihrer Emotionalität, ihrer tiefsten Gefühle, deshalb die Allgegenwart der Angst und die Notwendigkeit der Massensuggestion. Angst muss ständig erregt, aufrecht erhalten und immer neu erzeugt werden, deshalb der Dauerkrieg im großen Maßstab, die Welt voller Feinde, das Misstrauen gegen den Nächsten. Orwell ist es gelungen, die Merkmale moderner Diktaturen, in ihren entscheidenden Bedingungen atmosphärisch dicht einzufangen. Das Plötzensee-Ensemble schafft es erschreckend, dies auch auf heute anwendbar zu machen. Man verlässt den Knast mit Gänsehaut. Super gut gespielt! 

Nachtrag aus aktuellem Anlass:

Was das Theater seit 25 Jahren umtreibt, ist, ich zitiere nachfolgend aus dem Konzept der Truppe, den Gefangenen durch „darstellerisches Handwerk auf höchstem Niveau, Sprache, Stimme und Gesicht zu verleihen“. Texte werden so ausgesucht, dass es zu einer „Verzahnung von Persönlichkeit und dramatischem Text“ kommt. Es wird etwas von heute eingeflochten, Assoziationen eingebaut, die die Gefangenen zu den ihnen meist zunächst unbekannten Texten haben.  So enthält jedes Stück, schon im Entstehungsprozess etwas, dass mit den Gefangenen selbst und ihrer Situation zu tun hat, und so wird jeder tote Text eines Dichters in den Spielern selbst und für das Publikum auf ganz besondere Weise neu lebendig. Dabei gelingt es dem Regisseur Atanassov immer wieder, grade solche Texte auszusuchen, die in der Lage sind, sowohl Gefangene als auch Publikum aufzubrechen, und frei nach Kafka, die „Axt zu sein für das gefrorene Eis in ihnen“ zu sein, Voraussetzung für höchsten Kunstgenuss. Gleichzeitig eine Möglichkeit von Reflexion, Introspektion, Rehabilitation. Seit über zwei Jahrzehnten erreicht das aufBruch-Theater damit erfolgreich eine künstlerische Vermittlung zwischen der Welt innerhalb der Gefängnismauern und derjenigen außerhalb, ermöglicht  „vorurteilsfreie“ Begegnung von Menschen, und „Denkanstöße für individuelle Reflektion“. Straftäter und Bevölkerung werden in der künstlerischen Darbietung „einander näher gebracht“, da beide „Teil einer europäischen humanen Gesellschaft“ sind. Das Theater arbeitet in der „Berliner Justizvollzugsanstalt Tegel, seit achtzehn Jahren in der Jugendstrafanstalt Berlin, seit elf Jahren in der JVA Plötzensee und vereinzelt bereits auch in der 2013 errichteten JVA Heidering, beides ebenfalls Berliner Justizvollzugsanstalten des geschlossenen Männervollzuges“. Sogar außerhalb Deutschlands inszenierte aufBruch, wie in ihrem Geschichtsrückblick beschrieben, in einer russischen Jugendstrafkolonie und einer chilenischen Haftanstalt. Das aufBruch ist ein „vielköpfiges, ausdrucksstarkes Ensemble aus Inhaftierten auf der Bühne“ und ein „theatererfahrenes künstlerisches Leitungsteam von Draussen, das den professionellen Rahmen garantiert“.  Angebote reichen vom Kammerspiel bis zum Open Air. 

Dass dieses Konzept gelingt, davon zeugt die ungeheure Beliebtheit des Theaters bei den Gefangenen und einer stetig wachsenden Fangemeinde, die meist schon am ersten Tag der Ankündigung eines neuen Stückes dafür sorgt, dass sämtliche Plätze aller genehmigten Vorstellungen ausverkauft sind. Es würden also, wenn mehr Vorstellungen gespielt würden, weit mehr Besucher noch in das Theater Aufbruch kommen. 

Leider ist nun dunkelste Nacht eingezogen, das Justizministerium verweigert die weitere Förderung des Projekts, damit ist eine Arbeit nur noch unter so erschwerten Bedingungen möglich, dass es fast das Aus des Projekts bedeutet. Kein anderes Theater ist daher so schwer von den aktuellen Kultur-Kürzungen betroffen wie das aufBruch, denn ihr wichtigster Förderer ist zusätzlich noch weggebrochen. Das ist ein Skandal und das Gegenteil von Wertschätzung ihrer Arbeit. Das Justizministerium stellt sich damit sogar gegen seine eigenen Institutionen, denn auch Vollzugsbeamte sagten in einer Evaluationsbefragung: „Wir sind hier kein Ort des Schreckens…wir sind alle Menschen, die hier arbeiten oder inhaftiert sind, und wir treten (mittels der Aufführungen) in Kontakt mit Menschen, die von draußen kommen“ und äußerten, dass sie sich auch freuen, vom Publikum nicht nur auf den Vollzugsbeamten reduziert zu werden, sondern „als Menschen angesehen werden, die hier arbeiten und was ermöglichen“. 

Aufruf:

Setzt euch ein dafür, dass das Theater aufBruch weiter arbeiten kann wie bisher und also so bestehen bleiben kann, wie es sich seit Langem in seiner vollen Kraft gezeigt hat: Ausdrucksstark und authentisch. Schreibt Briefe an das Justizministerium, fragt beim Ensemble an, wie die beste Unterstützung aussehen kann, besucht das Gefängnistheater und teilt sein Programm. Es lohnt sich! 

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