“Stress” im Grips-Theater – Keine tote Hose – Rezension
Das Bühnenbild ist eine Schule in Art eines U-Bahngehäuses im Stil der siebziger Jahre, als in Westberlin die Gesamtschulszentren mit U-Boot-Fenstern gebaut wurden, und Beton, Orange und Turnstangen dominierten. Die Schüler kommen wie zufällig aus dem Publikum und gehen nur zögerlich auf die Schule zu. Dann sitzen sie, toben auf Befehl beim Klingeln, machen modern Jazz-Übungen im Sportraum, sitzen wieder, man sieht, ihre Gehirnzellen sind nur zu höchstens 15 % eingeschaltet. Da ertönt die Stimme aus dem Off: TEAMWORKS – Europaweites Projekt: …“ einmal den Lehrer abschalten…, …selbständig mit einem Unternehmen aus der Wirtschaft zusammen,…eigene Geschäftsidee, …Marketing-, Absatzstrategien entwickeln…wie würdet ihr eine Firma leiten,…Ihr seid gefragt!“ Alles sei erlaubt, man gibt sich jovial, es warten 2.000 Euro. In Gesamt- und Berufsschulen die gängige Methode der Berufsvorbereitung. Heute trottet man nicht mehr hinter der Lehrerin her ins BBZ und schaut sich Prospekte an, man gründet Schülerfirmen. Einst eine fortschrittliche Idee linker Lehrer um Schulverweigerern wieder auf die Beine zu helfen, hat es längst die Heuschreckenbranche entdeckt um damit geldeinbringende Sinnentleerung unter Schülern zu betreiben. Zunächst sind die Figuren fast maskenhaft leer und knapp gestaltet. So wie sie sich für den Außenstehenden, aus dem Blickwinkel von Industrie und Werbung darstellen. Schüler als Menschenmaterial, dass man zu Werbezwecken benutzen kann.
Warum kriegt hier kein Schwein was mit?
Doch das Grips wäre nicht das Grips, wenn es nicht Charaktere und Situationen brechen könnte und aufzeigen, was dahinter steckt. Unmittelbar nach der Teamworks-Werbestimme sieht man Marek, den Amokläufer auf einer Leinwand, wie er, mit gezogener Pistole deklamiert: ” Warum kriegt hier kein Schwein mit, was abgeht? Ich heiße Marek. Reden Sie mich gefälligst mit meinem Namen an, ich rede Sie auch mit Ihrem Namen an!” Der Zuschauer weiß noch nicht was los ist, wird aber in eine Spannung, Erschütterung und neugierige Erwartung versetzt. So baut sich gestalterisch das weitere Geschehen auf: Durchweg kunstvoll komponiert, glänzend gespielt, enorm gut durchgearbeitet, spannend, aufklärerisch. Die Einzelgeschichten der schließlich mitmachenden Teams, eine neue Art des Unterrichtens, wie es scheint, vereinzelter, kontrollierter, kälter als alles bisher Dagewesene, werden in Rückblenden erzählt, so dass es mehrere Erzählebenen gibt, was nicht nur der Spannung der Geschichte zugute kommt, sondern auch den Kriterien epischen Theaters gerecht wird: Kein dokumentarisches Abbild, sondern „dem Publikum ein Fenster zu seiner Realität öffnen…“, (Lutz Hübner in Grips, 1969, Große Klappe, starke Stücke). Die Figuren haben Humor, ohne jede Naivität, gewinnen an Tiefe, je mehr die Sinnlosigkeit und der Missbrauch ihres Strebens durch die Firma Teamworks deutlich wird: Durch Krisen lernt der Mensch. Das Ganze ist dialektisch aufgebaut, den Spielern sind von Anfang an Gegenspieler zugeordnet. Der strebsamen Celi, die Bewerbungsfloskeln zitiert: „ Ich bin motiviert, weil ich Neues erfahren will und meine eigenen Grenzen austesten möchte“, und die dann immer kälter wird und darüber schließlich zusammenbricht, wird der Rapper Irfan (glänzend gespielt von Jens Mondalski) gegenübergestellt: „Da spiel ich lieber mein Leben lang im Abseits als so zu werden wie ihr!“. Herausragende Choreografie, von der kleinsten Geste, am Anfang bläst Irfan sich, belustigt über das Werbeprojekt, für eine Sekunde wie ein Luftballon auf, aus dem dann die Luft gelassen wird, bis zum eskaltiertesten Ausbruch ist alles stimmig und echt. Man merkt die Recherche des „eben noch Jugendlichen“ Dirk Laucke, die Teamarbeit, das zweijährige Feilen an diesem „Gesamtkunstwerk“ aus Musik, Theater, Tanz und Dichtung.
Erwachsene können hier Jugendliche verstehen
Es ist für Jugendliche und Erwachsene gleichermaßen geeignet. Erwachsene können hier viel lernen über Jugendliche, Jugendliche sich selbst verstanden fühlen. Dann die Entwicklung im ganzen Stück, immer aus dem zugespitzten Gegensatz heraus geführt, Entwicklung des Bewusstseins der Protagonisten, Entwicklung des Bewusstseins der Zuschauer, am Ende schlüsselt sich der Anfangstext des Marek vollständig auf und es wird auch deutlich, was das meint: Mit Namen ansprechen. Ein Stück gegen den Verlust von Identität, gänzlich frei von Belehrung, wie immer mit vielen echten Schülerzitaten, die unter die Haut gehen. Unbedingt sehenswert! Angewandte Dialektik. Brecht hätte schmunzelnd im Publikum gesessen und sich gefreut. Auf das Gripstheater, ein aus der Westberliner Linken gewachsenes Projekt, sollten wir stolz sein, es ist nicht umsonst das berühmteste Kinder -und Jugendtheater der Welt, dabei macht es, nach Auskunft Volker Ludwigs, nichts anderes, als mit Erich Kästner über „Dinge zu schreiben, die wir längst kennen“, sein Ziel: „…da brennt die Luft, da herrschen Jubel und Begeisterung, da haste was fürs Leben“, hat das Grips mal wieder voll und ganz erreicht. Und „bei denen mit den Umhängebärten, die heute wieder überall das Sagen haben, herrscht tote Hose“ Auch das stimmt. Ermutigend!