Held Baltus – Rezension
Das erste neue Kinderstück dieser Saison im Grips ist das Stück `Held Baltus´, das am 15.9. in der Klosterstraße in Mitte Premiere hatte.
Großes Highlight in diesem Stück ist Roland Wolf. Schon während die Zuschauer reinströmen, sitzt er als Held Baltus, auf einem Sofa auf der Bühne und lässt die Beine baumeln. Sein Gesicht, noch im Dämmer der bloßen Parkettbeleuchtung, seine zusammengesunkene Körperhaltung, seine Art, wie er die Beine baumeln lässt, als er einmal aufspringt und zur Tür läuft, alles stimmt mit dem Alter und der Stimmung überein, das er darstellen soll, etwas traurig, auf etwas wartend, ängstlich, mit einer winzigen, schon vorsichtig sichtbar werdenden kleinen Wut.
Leider zu laut, zu clownesk
Das Stück beginnt durch das lärmende Hereinstürmen der Claire, gegeben von der aus Düsseldorf von Stefan Fischer-Fels mitgebrachten Neubesetzung Alessa Kordeck. Ihr Alter ist nicht so einfach rückschließbar, selbst als sie mehrfach sagt, sie sei neun, kann man es ihr nicht glauben, man sieht sie als eine Erwachsene, die ein Kind spielen will und sie spielt es so, wie sich eine Erwachsene ein Kind vorstellt, nämlich albern. Sie kommt in lila mit rot aufgetürmten Haaren im grünen Overal, sie wirft mit Chips und Cola um sich, sie sagt ständig „Schisser“, lacht laut und ihr Charakter ist im ganzen zu einseitig gestaltet. Sie spielt auch zu laut, zu clownesk, das ist schade, zieht sich aber durch ihr ganzes Spiel, sie ruft Lacher durch Gags hervor, die gewollt wirken und nicht zufällig passiert, was ein großer Unterschied in der Komik ist. Schade, denn das Fehlen jeglicher Kindertümelei und Clownerie war bisher das Markenzeichen des Grips.
Ängste in der leeren Wohnung und markierte Bauchschmerzen
Zum Inhalt: Es geht um eine alleinerziehende Mutter mit sechsjährigem Sohn, der „klammert“, wie die Mutter einer Freundin am Telefon erzählt. Gleichzeitig erzählt der Sohn der Claire, einer Nachbarstochter, dass seine Mutter „immer“ erst spät nach Hause kommt. Man weiß nicht genau, ist das ein Lehrstück für Kinder, die dazu „erzogen“ werden sollen zu akzeptieren, dass ihre Mütter auch mal Auslauf brauchen oder eins, dass sich einfühlt in kindliche Ängste in der leeren nächtlichen Wohnung. Gegen das zweite spricht, dass der Sohn hingestellt wird, als markiere er die krampfartigen Bauchschmerzen, ein typischer, sehr im Mainstream liegender Irrtum der heutigen Erwachsenen, die nicht nur psychosomatisch mit vorgespielt verwechseln, sondern den Kindern auch noch unterstellen, sie würden mit sechs Jahren schon mit Vorsatz täuschen um einen Zweck zu verfolgen, nämlich den, die Mutter ans Haus zu ketten. Frei nach der „Kleine-Tyrannen-Ideologie“ und weg von der durch Alice Miller (Am Anfang war Erziehung, Drama des begabten Kindes) beeinflussten einfühlenden pädagogischen Draufsicht. Doch es gibt auch Einfühlung, die Szenen, wo er davon hört, dass er angeblich seiner Mutter zu viel sei, dass sie angeblich wegen ihm nicht zu ihrem eigenen Leben komme, dass sie ohne ihn eine attraktive Frau wäre, die sich amüsieren könne, die sind stark gespielt und da ist der Raum mit den geladenen Premierenschulkindern totenstill.
Die Bosheit des Mutterfreunds
Leider gibt es weitere Schwächen. Die Erschreck-Szenen, besonders die durch die Claire hervorgerufenen Schreiausbrüche, die Lache und Bosheit des Mutterfreunds, die nie gebrochen und nirgends aufgelöst wird, und die Gespenst-Szenen sind zu gruselig. Diesen Eindruck hatte eine ebenfalls neunjährige kleine Expertin, die neben mir im Publikum saß und meinte, dass sie das für zu gruselig für Sechsjährige halte. Sie muss es wissen, finde ich. Die Knoblauch-Szenen sind zu stark gewollt und von erwachsenen Denkmustern beeinflusst, welches Kind glaubt an solchen Quatsch? Die Problematik des nächtlichen Alleinlassens von Sechsjährigen mit Apell an dessen Verständnis der eigenen Situation mit umfangreichen Erklärungen und des offenen angesprochenen und mit den Kindern diskutierten Klammerngefühls der Mutter (Ich sehe nur noch Arbeit und Baltus) sind in der sprachlichen Gestaltung mittelständisch orientiert, in den Handlungen aber nicht, denn hier würde eine solche Mutter, wie in „Julius und die Geister“ sehr viel besser umgesetzt wird, einen „Babysitter“ besorgen, wie auch sowieso das Stück „Held Baltus“ leider gegen seinen Vorgänger „Julius und die Geister“ nicht konkurrieren kann. Letzteres ist sehr viel feinfühliger und stimmiger umgesetzt. Allein die Figur des Mannes ist viel zu negativ gestaltet. Das mag beabsichtigt gewesen sein, da man ja zeigen wollte, dass Kinder ihre Mutter im Falle solchen Falles auch davon überzeugen können, so einen wieder aus dem Haus zu werfen. Was stört also? Es geht einem nicht nah. Ich weiß nicht warum, aber da bleibt was oberflächlich.
mit Mehl herumgesaut
Das Oberflächliche haftet leider allen Personen an, sogar Baltus, obgleich der einzigartig gut gespielt wurde. In all den Momenten, wo die Figur trotzig angelegt ist, vorsätzlich täuschend, der Mutter nur aus Wut auf den Schoß krabbelnd um den Liebhaber zu verdrängen, wird die Kinderperspektive zugunsten der Erwachsenenperspektive verlassen und damit eine der wichtigsten Gripsgrundsätze leider zu Lasten des pädagogischen Zeigefingers aufgegeben. Es wird auch zuviel Material verschwendet, zig Chipstüten werden von den Kindern mutwillig ausgekippt, dazu mit Mehl herumgesaut, mit ausgekipptem Poppcorn. Kinder sind da empfindlich, wenn die Erwachsenen ihnen sagen, dass sie nicht mit Essen spielen sollen, weil in Afrrika Kinder hungern, dann wollen sie nicht von Erwachsenen in einem Theater vorgeführt bekommen, wie die sich Kinder vorstellen, als würden die nur mit Essen auf Möbeln und Fußböden herumwerfen. Auch rastet die Mutter seltsamerweise darüber gar nicht aus, es wird auch diese Kleinigkeit leider viel zu clownesk gegeben, als Slapstick, wie bei Dick und Doof, schade. Ich muss leider empfehlen: Lieber in „Julius und die Geister“ gehen, ähnliche Thematik, aber um Längen besser. Ich wäre auch dafür das Letztgenannte in Sao Paulo auf internationaler Bühne zu präsentieren, dieses Stück ist dafür zu schwach, es repräsentiert nicht die bisherige Anti-Erzieherische Haltung des Grips.
Verspricht nun brav zu sein
Lutz Hübner sagt selbst, laut Programmheft, dass er es als „die größte Heldentat“ des Jungen ansieht, „dass er, wenn auch zähneknirschend, akzeptiert, dass seine Mutter neben der Baltusbetreuung auch noch ein Recht auf ein eigenes Leben hat.“ Dieses Akzeptieren wirkt übrigens am Ende völlig unverbunden, der Sohn, sowieso von der Mutter die ganze Zeit parentalisiert, klopft der Mutter wie ein Partner auf die Schulter und „verspricht“ nun, brav zu sein und ihre Freiheitsbedürfnisse über seine Trauer im Alleingelassensein zu stellen. Wenn das kein Zeigefingertheater ist, was ist es dann? Nicht Mütter brauchen also in unserer Gesellschaft Hilfe und Entlastung durch gesellschaftlich sinnvolle Strukturen, damit sie sich verwirklichen können, ohne ihre Kinder allein lassen zu müssen, nein, Kinder müssen nur ihre Ängste überwinden und ihre „Verwöhnbedürfnisse“ hintan stellen. Liegt voll im Trend: Das Kinder angeblich zunehmend faul, ansprüchlich, thyrannisch sein sollen, ist ein Märchen, das heute jeder Mutter mit Seitenhieb auf die 68-iger Antiautoritären, die dafür angeblich verantwortlich sein sollen, eingeredet wird.
Zu früh ernorme emotionale Mängeleerlebnisse
Tatsächlich ist es aber so: Bei heute nicht unüblichen Fremd-Betreuungszeiten von 10- 12 Stunden, bleibt bei 8 Stunden Schlaf des Kindes und 3 Stunden für An- und Ausziehen, Abendbrot und Frühstück, Toiletten-, Waschvorgänge und Ins-Bett-Bringen gerade mal eine Stunde, in der die Chance besteht, dass eine Mutter oder ein Vater mit dem Kind mal redet, spielt, ihm zuhört. Das ist wohl eher zu wenig als zu viel, unsere Kinder sind quengelig, traurig, wütend und bauchwehkrank , weil sie meist viel zu früh enorme emotionale Mängelerlebnisse haben. Sie müssen nicht lernen, ihre Mütter „frei“ zu geben, unser Staat muss lernen in seine Sozialkonzepte eine kinderfreundliche Lebensgestaltung für Mütter, Väter und Kinder zu ermöglichen, durch Teilzeitkonzepte für Eltern bei voller Bezahlung und Berentung zum Beispiel.