Beluga schweigt im Rostocker Theater – Rezension
in jungewelt/Feuilleton am 5.4.16
Die Stadt Rostock fährt Schlitten mit dem Rostocker Theater, die Katze, die neu aus dem Sack geholt wurde, ist die Idee, das schon ewig geplante „neue Haus“ nun in Gänze als Opernhaus zu bauen, und das Theater einfach komplett zu schließen. Sewan Latchinian hat das nun erst mal aufs Krankenlager geworfen, andernfalls hätte er vielleicht das Rathaus gestürmt.
Das machen zunächst einmal andere, nämlich die Rostocker Schauspielstudenten, die Flashmobs und ähnliches in Rostock durchführten um darauf aufmerksam zu machen, dass die Abteilung Schauspiel in der HMT damit auch gleich gestrichen wäre. Nun hat Latchinian mehrfach auf die Tatsache hingewiesen, dass die hoch arbeitslose Stadtbevölkerung sich schon schwer fürs Schauspiel begeistern kann, sich aber mit Sicherheit nicht auf die Sparte Oper einlassen wird, die doch noch viel mehr als reines Oberschichtvergnügen angesehen wird. Das kann mE jeder bestätigen, der in Rostock seit der Wende das Theatergeschehen verfolgt hat, stets konnte sich Schauspiel dann durchsetzen, wenn geschafft wurde, den Bedürfnissen der Menschen in der Stadt nahe zu kommen, ihren Gefühlen nachzuspüren, etwas zum Ausdruck zu bringen, was ihnen auf der Seele brannte. Man muss dabei, wie überall in den „neuen“ Bundesländern gegen die Macht der gigantisch neu aufgerichteten Unterhaltungsindustrie und ihrer nur fürs Geld arbeitenden Abkömmlinge ankommen, kann eigentlich nur etwas erreichen, wenn man mit sehr viel Originalität, revolutionärer Triebkraft und einem einmaligen Gespür für Regionialprobleme vorgeht. Genau das hat Latchinian und seine Crew in den letzten zwei Jahren getan. Es verging nicht eine Premiere, in der nicht die Bedeutung aller vier Sparten herausgehoben wurde und es verging nicht eine Premiere, in der nicht auf regionale Probleme, die in einer Hafenstadt typisch sind, Bezug genommen wurde. Was arbeiten die Menschen hier, was haben sie gearbeitet, woran sollten sie wieder arbeiten?, das hat Latchian schon in Senftenberg immer interessiert. Der gute theaterpolitische Grundsatz, dass man an den Bedürfnissen der Arbeitenden, ihrer Geschichte und ihrer Zukunft ansetzen muss, wurde zum Prinzip erklärt und nicht das Gegenteil, dass man an den Bedürfnissen der Reichen ansetzt. Ersteres hat sich übrigens künstlerisch immer als langlebiger erwiesen und schließlich durchgesetzt (Sophokles, Lessing, Schiller, Piskator, Brecht, Boal), während Letzteres einigen wenigen kurzfristig Geld einbringt, aber künstlerisch in die Nähe von Prostitution gerät.
Jedoch Stadtväter lieben es, sich in der Nähe von Prostitution zu bewegen, oft kennen sie gar nichts anderes: Anpassung an die Bedürfnisse der Geldgeber, in diesem Fall, reicher Spender, denn Steuergelder werden ja kaum noch gezahlt, das ist oft das einzige Prinzip halbwegs gesteuerter Stadtpolitik.
In dem Zusammenhang möchte ich ein Theaterstück erwähnen, dass ab Ende Januar im Volkstheater Rostock läuft, das damit seinem Namen noch alle Ehre macht: Es heißt: Beluga schweigt und ist ein Stück investigatives Theater, denn aus dem bisher in nur zwei Sachbüchern verhandeltem Stoff, der sich um Aufklärung der von Staats wegen vertuschten Tatsachen über ein in der Ostsee passiertes Schiffsunglück 6 Tage vor Ausbruch des Jugoslavienkrieges bemüht, hat Yvonne Groneberg (plus Dramaturg Martin Stefke) ein ergreifendes und wirklich sozialrevolutionäres Stück gemacht.
Bei bestem Wetter und 50 cm Seegang sinkt innerhalb von 60 Sekunden ein Kutter und die drei Mann Besatzung sterben in der eiskalten Ostsee, Zusammenhänge mit dem zur selben Zeit stattfindenden nächtlichen Manöver werden seitdem geleugnet, ein Sachverständiger, auf den die Verantwortung abgeschoben wurde, suizidiert sich, ein Sohn, der sich bei der Marine anmelden will und sich deshalb mit seiner Mutter verzankt, beginnt nachzuforschen.
In der Hauptrolle des nachforschenden Sohnes glänzt Filip Grujic, sein Spiel ist ausgesprochen virtuos, zwischen Naivität, Schüchternheit, Aufbrausen und Verzweiflung schwankend, entwickelt er sich im Laufe des Stückes zu ausgesprochener Radikalität, seine Mutter ist besetzt mit Inga Wolff, ihre Rolle der verbitterten Frau ist das schwere Gegengewicht dazu, gleichzeitig die emotionale Wurzel, von der aus die Wahrheit nach wie vor um Durchsetzung kämpft. Hier leistet die Starschauspielerin Rostocks, Inga Wolff, wieder mal Großes, allein ihr Minenspiel, als der Sohn nach Haus kommt und ihr mitteilt, dass er die Aufnahmeprüfung zur Marine geschafft hat, ist ungemein ausdrucksstark und wird lange, wie in Zeitlupe gezeigt. Mühelos stellt sie eine Frau dar, die älter ist als sie selbst.
Die Figuren des Stückes sind alle im Kleine-Leute-Mileu angesiedelt, es handelt sich um Fischer, Witwen von Fischern und Söhne von Fischern, die ganze Crew fuhr tatsächlich zur Recherche nach Sassnitz und sprach mit betroffenen Angehörigen und Fischern. Das der erfahrene Kapitän aus Fahrlässigkeit selbst den Kutter ins Jenseits befördert haben soll, das glauben sie alle nicht, stattdessen neigen sie eher der Variante zu, dass die Nato hier fahrlässig gehandelt habe und der Kutter durch ein im Meer ausgespanntes Metallseil havariert wurde. Dafür sprechen jedenfalls die an Ausreden starken Briefe und Ablehnungsschreiben, die von dorther und aus Regierungskreisen geschickt wurden. Da gab es kein einziges echtes Wort der Anteilnahme, nur Abwiegelungen, Unterstellungen und Anschuldigungen. Der Tonfall dieser Briefe wird im Stück sehr gut nachempfunden: Bruchstückhaft wird aus dem Off aus diesen leeren Briefen zitiert, das gibt dem Stück seinen Zündstoff, der die Wut eines jeden im Publikum fast ebenso anfacht, wie es dem Protagonisten auf der Bühne mehr und mehr passiert.
Die Fischer sind bis ins Detail gut getroffen, genauso sitzen sie, schauen sie, reden sie und das wird von den Spielern Alexander Wulke und Steffen Schreier auch überaus authentisch und mit viel Kraft umgesetzt.
Alexander Wulke hat auch in der Eingangsszene den Kapitän unter die Haut gehend gut getroffen, ebenso wie Steffen Schreier den resignierten Journalisten, der seit Jahren nachforscht, depressiv und in eine Decke eingehüllt, wunderbar verhalten revolutionär gibt.
Steffen Schreier ist ein Rostocker Schweighöfer, er scheint in Spielgestus, Haartracht und Körperform ein wenig ihm nachgebaut zu sein, er verkörpert kraftvoll, wild und entschlossen, manchmal nur resigniert, eine Generation des 60/70-er Jahre Aufbruchs des 20. Jahrhunderts, heute grauhaarig, nur scheinbar nicht wahrgenommen, schon fast vergessen, aber doch in Vielem noch wirksam, wird hier das Zepter an die jüngere Generation weitergegeben, die im Laufe des Stückes sowohl das Staatstreue, als auch Furcht und Unsicherheit ablegt und mit einem Appell an das Publikum endet, das Schweigen um die Beluga aufzubrechen. Durch den Kopf gehen einem dann sofort andere Staatsverbrechen (Vertuschung Münchner Oktoberfestmorde, NSU-Affäre, Keupstraßenmord,…). Das Schweigen um das Rostocker Theater, das Hinhalten, das Täuschen aufbrechen! Unbedingt hingehen! Lohnt sich!