Die Wahrheit ist weiblich – Das überhaupt nicht laienhafte Stralsunder Theaterstück »Ach, Frauen!« Rezension
in jw, 23.3.09, von Anja Röhl
Die Kulturrevolution in den 60er Jahren lebte vor allem durch den innigsten Wunsch ihrer Protagonisten nach menschlicher Aufrichtigkeit. Sie war ein Feldzug gegen die bürgerliche Heuchelei. Die Beatles, die Stones, Janis Joplin, Jimi Hendrix, Che Guevara, Malcolm X, Eldrige Cleaver, James Baldwin und zahllose andere, Künstler, Intellektuelle und Revolutionäre haben oft seit frühester Jugend gegen Maskenhaftigkeit, Doppelmoral, und Heuchelei in jeglicher Form gekämpft. So auch der Franzose Robert Thomas, Autor des Theaterstücks »Acht Frauen«, auf dem der gleichnamige Film von François Ozon basiert. Während Ozon internationale Anerkennung genießt, scheint der Schriftsteller vergessen zu sein. Wer im Internet nach Robert Thomas sucht, findet zehn Verweise auf einen Elektrogerätehersteller, aber keinen auf den im Jahre 1927 geborenen Autor, dessen Stück gut und gern in einer Reihe mit Sartres »Bei geschlossenen Türen« und Dario Fos »Bezahlt wird nicht« genannt werden könnte.
Gegen bürgerliche Heuchelei
Es zeigt unter der Schale bürgerlichster »heiler Welt« einen Abgrund von Haß, Neid und tödlicher Eifersucht. Dieser profane Inhalt, man scheint ihn in jedem billigen Krimi vorzufinden, wird von Thomas in so genialer Weise entwickelt – mit äußerst fein dosierter Ironie und ins Absurde hineinspielenden Dialogen –, daß etwas Ernstes herauskommt, obgleich man die ganze Zeit lachen muß. Eine sensationelle Inszenierung des Stücks haben die Jugendlichen vom Stralsunder STiC-er-Theater mit der Regisseurin Lili Derbyschire hinbekommen. Sieben Frauen zwischen 18 und 24 spielen in einer zerbröckelnden Fassade von Familienwahnsinn, Lügen und Schuld. Der Titel lautet »Ach, Frauen!« Die Typisierung der Charaktere gelingt oft so, daß dem Publikum das Lachen nur so herausplatzt. Ein Lachen, das nicht schadenfreudig ist, sondern voll von Erkenntnis und Selbsterkenntnis.
Witz mit Ernst verbinden
Wie der Regiesseur Robert Thomas hat das Laienensemble die seltene Fähigkeit, Witz mit Ernst und Aufklärung zu verbinden. Die Frauen spielen kämpferischer und besser als manche ausgebildete Berufsschauspieler gegen die Masken ihrer Schwestern, Tanten, Mütter und Großmütter an. Es ist eine Leidenschaft in ihnen, die nicht nur den Rollen zu gelten scheint. So etwa, wenn die 15jährige Catherine ihrer Schwester sagt: »Eine von uns ist es, aber sie verbirgt es, sie lügt, alle lügen! Erst mal müssen alle rückhaltlos die Wahrheit sagen!« Da spürt man einen Aufruhr, Masken und vorgegebene Rollen nicht mehr leben zu müssen, sondern zu zersprengen. Dann gibt es eine Szene, in der sich eine laszive Haushälterin die Fingernägel lackiert und den Lippenstift nachzieht. Das hat man schon tausendmal so ähnlich gesehen, das bedient alle Klischees, aber die Art und Weise, wie es hier gemacht wird, ist nicht nur witzig, sondern auch aufklärend. Als hätten sich Schauspieler und Regisseurin gesagt: »Alle lügen, daher müssen erst mal alle rückhaltlos die Wahrheit spielen.«
Sinnbild für Entfremdung
Kunstvoll folgen in dem als Kriminalstück getarnten Gesellschaftsdrama die aufgedeckten Heimlichkeiten aufeinander. Das mögliche Motiv für den Mord am Ehemann, Vater, Schwager, Schwiegersohn und Bruder springt zwischen den Personen hin und her wie ein Vogel. Als Sinnbild für Entfremdung und Verdinglichung, für Mißtrauen und Konventionalität, die in den bürgerlichen Familienstrukturen herrschen und jeden Menschen würgen, ihm zumindest am Hals zu sitzen scheinen. Problematisieren Jugendliche diese Heuchelei neuerdings wieder? Man wagt es nicht zu glauben. Alles stimmt bei dieser Aufführung. Jede Geste, jeder Tonfall, jeder Gesichtszug, die Kostüme, die Maske. Nichts ist zu dick aufgetragen. Nichts wirkt laienhaft. Allerbestes Theater, viel zu schade für die Provinz.
Vorführungen am 24., 26., 28.3., 7. und 9.4., jeweils 19 Uhr, StiCer-Theater, Alte Eisengießerei, Frankenstraße 57/61, Stralsund