Sarrazin und Tango Türk Rezension

13.10.10 / jw Feuilleton

Tango Türk 1Jeden Tag neue Sarrazin-Meldungen: Zunächst der Vorwurf der Integrationsunwillligkeit und der Parallelwelten – (leben wir nicht alle in Parallelwelten?), es stellte sich aber heraus, dass die Leute sehr wohl deutsch lernen wollen, der Senat aber genau hier leider einspart, dann heute endlich, man hat ja schon drauf gewartet, die Zuzugsstoppforderung für „Türken und Araber“, Zusatz: aus Europa gern, aber nicht aus diesen Ländern. So dreist hat man selten Offizielles gehört.  Die weißen Armen müssen Futter bekommen, fresst also: Die Ausländer. Woran aber erkennt man sie? Dunkle Haare, dunkle Haut, nicht europäisch.  Ich beobachtete letztens in der RE-Bahn aus bestimmten Provinzen zwecks Arbeit nach Berlin Einreisende, wie sie sich empört darüber unterhielten, dass es in Kreuzberg tatsächlich „voll türkische“ Kaufhäuser gäbe. Sie würden sich jedenfalls in diesen Bezirk nicht reintrauen, da dort all die „dunklen“ Typen herumliefen. Es herrschte Konsens in der Bahn, dass Deutschland zunächst mal die Pflicht habe, den „Deutschen“ Arbeit und Fortkommen zu ermöglichen, stattdessen würde den „Ausländern“ alles „hinten reingeschoben“.

Es geht um Haut und Haar

Es geht nicht um Sprache, englisch und französisch akzeptieren alle mühelos, es geht nicht um Deutsche, schließlich haben die Deutschen mit türkischer Herkunft aus dem 20. Jahrhundert heute mehr zu befürchten als die mit polnischer Herkunft aus dem 19. Jahrhundert, die Sembritzkys, Kaminskis, Droschewskys, die in Süd-Neukölln leben.  Es geht um Haut und Haar und Farbe, hell ist angesagt, dunkel ist verdächtig.  In sofern war es schon erhellend, beim jüngsten STATTreisen-Rundgang „a la turca“ zu erfahren, dass zwar in Kreuzberg in den 80iger Jahren  1/3 türkische Menschen lebten, heute aber nur noch 1/10. Dafür haben diese Einwanderer aber eine enorm reichhaltige Infrastruktur nach Berlin gebracht, was die Wirtschaft angekurbelt hat. Davon kann man sich am Kottbusser Tor und Damm ein gutes Bild machen.  Juwelierläden, Süßigkeiten, Gewürze, Obst in Massen, Restaurants, Ballsääle, Maybachufermarkt uvm. Und überall sprechen alle, man glaubt es nicht: deutsch. Man muss sie nur anquatschen, dann kann man es hören, nahezu akzentfrei, wo immer man hinkommt. 

Ein Pflaster der Freiheit und  Toleranz

Das STATTReisen-Kollektiv traf sich vor 30 Jahren in einem WG-Zimmer und gründete eine alternative Stadtführungsgesellschaft, sie begannen mit dem „Roten Wedding“, ihnen stank der Bus-von-außen-Tourismus konservativer Prägung, sie wollten die Stadt so zeigen, wie sie ist, dazu sozialgeschichtliche Erklärungen und Entdeckungen  einbringen, eine sozialistische Alternative der reaktionären Geschichtsauffassung entgegenstellen. Demgemäß wird auch eine Viertelstunde vor der auf der rechten Kottbusser-Tor-Seite stehenden Bronzestele des Celalettin Kesim gestanden und der Geschichte dieses feigen Gewerkschaftlermordes der faschistischen „Grauen Wölfe“ gedacht, die mit Franz Josef Strauß zu Mittag speisten und dafür am helllichten Tage in Berlin einen engagierten linken Lehrer erstechen durften.  Nach dem Spaziergang durch Kreuzkölln, Klein Istanbul genannt, ein Pflaster der Lebendigkeit und Toleranz, nirgends böse Blicke, überall Lachen, Erklärungen, Freundlichkeiten,  sehr viel Verschiedenartigkeit,  ging die Tour weiter nach Neukölln in die Karl-Marx-Straße, wo die legendäre Neuköllner Oper heute Abend das Stück „Tango türk“ aufführt, dass am Donnerstag seine Wiederaufnahmepremiere hatte und schon am ersten Tag mit über 1000 verkauften Karten aufwarten kann.  Zunächst darf ein Blick hinter die Kulisssen getan werden, das Kollektiv mit sehr flacher Hierarchie ( Lohn des Geschäftsführers und der Putzfrau differieren nur um 120 .- ), residiert in einer, sich um das alte Kulturgebäude herumschlingenden Riesenwohnung, in ineinander übergehenden Zimmern in Art einer WG.  Alles  strahlt Bescheidenheit und Improvisation aus, man atmet noch die Aufbauzeit, wo Radeke mit seinen Künstlern gegen alle Widerstände der CDU in seinem Bezirk, die Existenz des alternativen und kreativen Musiktheaters durchgesetzt und durchgekämpft hat. Die Neuköllner Oper begreift sich als sozialkritische Bühne, auf der aufklärerische und aktuell die Bevölkerung bewegenden Probleme in aufbauende Inhalte mit Musik dargebracht werden, in der komponiert, gespielt und nachgedacht  wird und die zur Bewusstseinsentwicklung der Neuköllner Bevölkerung Richtung Menschlichkeit, Toleranz und sozialistischen Ideen nicht wenig beigetragen hat.  Das Ensemble wird jedes Mal neu zusammengesetzt, so haben hier viele junge Künstler eine Chance.  Anschließend gibt es ein kleines Essen, leider nicht türkisch, was schade ist, sondern Kartoffelpuffer, aber dies sollte vielleicht ein Beitrag zur Integration sein. Dann geht’s gemeinsam ins Theater.

Türkische Kultur und Widerstandsgeschichte

Im Stück „Tango Türk“, seit  7.10. in der Wiederaufnahme, wird ein Familien-Geheimnis, eingebettet in die Geschichte türkischer revolutionärer Exilanten der 80iger Jahre, die vor dem Faschismus flohen, kunstvoll, spannend und einfühlsam aufgedeckt. Dabei wird einem türkische Kultur und deren neuere Geschichte auf eine Weise nah gebracht, wie ich es nie zuvor erlebte. Wir kennen doch alle die schmalzig-türkischen Sehnsuchtslieder, die aus jedem türkischen Cafe´ schallen, hier werden sie, gesungen von Begüm Tüzemen, derart gut in die Geschichte eingebettet – jedes türkische Wort, auch alle Lieder werden übersetzt an einen Felsen geworfen – dass man ihren tieferen Sinn versteht, ihre Bedeutung für das Elend des Volkes, für die Trauer der Frauen in ihren Zwangs- und Vernunftehen, für die Verzweiflung um die verlorene Freiheit, die in Blut erstickt wurde.

Stöpsel im Ohr und eine tote Mutter

Zu Beginn steht eine Familie gedrängt in einem gläsernen Wohnzimmer und als die Musik – das kleine Orchester befindet sich rechts auf der Bühne- zu spielen anhebt, einen weichen, getragenen türkischen Tango spielt, Symbol der fortschrittlichen Atatürk-Bewegung  zu Beginn der 20-iger Jahre, es gab einen regelrechten Rausch nach Tango unter jungen türkischen Städtern, stürmen die Mitspieler raus, tanzen umeinander, langsam schält sich ein junger Mann heraus, ein Anzugsmanagermensch von heute, der mit PC und Stöpseln im Ohr geschäftig in der Mitte sitzt und etwas von 20.000 Euro in sein Headset murmelt. Die Mutter des jungen Mannes stirbt, man sieht sie weiß eingewickelt auf der Erde liegen, vier türkische  Cafe´hausmänner, die tatsächlich aus einem echten Cafe´haus am Hermanplatz für diese Aufführung aquiriert wurden, stehen dabei, zunächst als Totenwache, später als Erzähler von Lebens-Geschichten. Unter  wunderschönen Gesängen, entschlüpft die Mutter dem Laken und spielt fortan als eine die Lebenden beobachtende Tote in Sartrischer Manier neben ihren Familienmitgliedern.   Schon bald nimmt sie den Sohn an seinem Schlips und verführt ihn zu einem Erinnerungsspiel. Oben auf dem Dach des Hauses, wo das Stück sich ab jetzt in Vergangenheitssequenzen mit dem Heute verschränkt, sieht man wie sich die junge Liebe in den siebziger Jahren entwickelt. Ein Zahnarzt wird auf einer Demo verletzt, flüchtet in einen Buchladen, die junge Frau versteckt und verarztet ihn, die Liebe ist geboren. Die Szenen ihrer erwachenden Liebe, ihrer Schüchternheit, aber auch Freiheitlichkeit im selbstbestimmten Umgang miteinander will so gar nicht in das Bild passen, was man sich im Allgemeinen von türkischen Familienverhältnissen macht.

Kinder müssen ihre traumatisierten Eltern führen

Deutlich wird: Islamistisch-fundamentalistische Formen sind eine neuere reaktionäre Bewegung. Das Glück der beiden währt kurz, der Putsch zerstört alles, Faschisten bekommen die Oberhand, sie werden getrennt. Sie flieht mit einem Kind im Bauch, und da sie ihn nicht findet – er ist zeitglich in Djarbakir, im Isolationsgefängnis- heiratet sie einen anderen, der droht, den echten Vater des Kindes, sollte er je zurückkommen, zu erschießen. Die Geschichte wird nur langsam enthüllt, ähnlich der Geschichte in „Verbrennungen“, zeigt sich den Kindern das Drama, Tochter und Sohn haben ihr Leben lang unter den Saufereien des Vaters gelitten, aktuellstes Zeichen, der Sohn will dem Vater nicht mit einem neuen Kredit helfen, auch hier ein typisches Problem vieler Migrationsdeutschen, sie müssen die mehrfach traumatisierten Eltern durchs Leben führen, kaum dass sie im Schulalter sind. Später, durch die hohe Arbeitslosigkeit, ursprünglich hatten vier von fünf Familien bei Siemens gutbezahlte Arbeit, das wissen wir von der STATTreisen-Führung, erst nach 89 brach durch den Wegzug der Industrie alles zusammen. Mussten Kinder die Eltern oft auch finanziell stützen. Dem Stück gelingt aber nicht nur in diesem Konflikt eine differenzierte Ausgestaltung, auch die beiden jungen Hauptdarsteller im Heute, Tochter und Sohn, sind sehr gut getroffen, während der Sohn den eher konventionellen Weg des Informatiker-Geschäftsmannes geht, wählt die Tochter die Kraft der Wut. Ihrem Wunsch nach Freiheit, ihrer Emanzipationskraft als junger Frau werden immer wieder harte Grenzen gesetzt, sie erfährt Gewalt in Beziehungen, weil sie sich nicht beugen will, sie erlebt Existenzprobleme, weil sie keine Unterstützung je erfuhr. Dass all das mit dem Geheimnis zusammenhängt, dass der Sohn einen anderen Vater hatte, die Mutter ewig der unglücklichen Jugendliebe hinterher trauerte, mit türkischer Geschichte durchzogen, von ihr nicht zu trennen ist, dass bildet in den jungen europäischen Deutschtürken ein explosives Gemisch von Wut und Verzweiflung, die hier auf einzigartige Weise sichtbar und nachvollziehbar gemacht wurde.

Lauf zum Bach, sammle Steine

Alle Schauspieler, bis auf eine, einschließlich der begnadeten Komponistin Sinem Altan, die wir schon aus „Stadt der Hunde“ kennen, sind Deutschtürken, Türkischdeutsche, Menschen mit türkischem Familienhintergrund, Normalsprache ist akzentfreies deutsch, ins Türkische wird gewechselt, sobald es ernst wird, der Sprachduktus ist absolut echt getroffen, türkische Worte werden in Schrift eingeblendet, man versteht sie aber beinahe auch so schon.  Die Lieder der Sängerin sind geschickt in den Ablauf des Geschehens eingebaut, wunderschöne Bildhaftigkeit:  …in einer kalten Winternacht füllen sich meine Augen mit Tränen…ich gehorche dem Schicksal,…geh, lauf zum Bach, sammel Steine, …ich gebe dir deine Haarsträhne zurück, …. wie lange habe ich schon meine Geliebte nicht gesehen…du hast mir den Kopf verdreht…ich habe vergessen, wer mein Vater ist, ich kann mich nicht beherrschen, habe vom süßen, kalten Wasser gekostet,…nie wieder soll ich dich umarmen?“

Pure Vernunft darf niemals siegen

Sehr stark der Gesang der als einzig als deutschstämmig erkennbaren Kellnerin, die eine verlorene Ostwaise ist (Vater in den Westen abgehauen, nie mehr gemeldet), die den türkischen Kneipiervater aufgrund seiner Wärme liebt: „ Pure Vernunft darf niemals siegen!“: „Pure Vernunft darf niemals siegen / Wir brauchen ständig neue Lügen / Die uns in´ schönsten Schlummer wiegen / und uns vor stumpfer Wahrheit warnen / die uns tief im Inneren stärken / und danach wirklich uns berühren / …hinein ins Dunkle führen / ..bis wir so leicht sind, dass wir fliegen.“ Einmal erzählt der PC-Geschäftsmannsohn seiner Schwester eine Erinnerungssequenz aus der Kindheit, wie der Vater in kalter Wut eines Nachts die Kinder aus dem Bett holte, in den Wald mit ihnen fuhr und sie dort allein ließ. Die Aufdeckung des Familiendramas heilt, der Sohn, noch im Kostüm des echten Vaters aus der vorherigen Szene, reicht dem vormals verhassten „Baba“ die Hand hin, fassungslos begreift er was der Vater und die Mutter erlitten haben.

Wir gehören zusammen

Das Publikum versteht, fühlt, tanzt, singt, klatscht: Türkische Geschichte zwischen Neukölln und Istanbul, wir gehören zusammen, unauflösbar! Allen Sarrazins zum Trotz, die sich auf Kosten von Millionen in ihren Diäten suhlen und ihre dummdreisten Sprüche ablassen, mit denen sie eine Stimmung heraufbeschwören, die an die „Kristallnacht“ erinnern soll und nur eine einzige Funktion hat, das enteignete und mehr und mehr verarmende Proletariat gegeneinander aufzuhetzen und sich zerfleischen zu lassen.

Weitere Aufführungen: 11.,12.,13.11.10 und 18.-22.11.10

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