Zweimal “Der Geizige” in Rostock und in den Kammerspielen des DT
Wenn es etwas gibt, das ich im Theater hasse, dann ist es manieriertes Gebrüll. Ein Surrogat der Leidenschaft. Und das Wälzen der Schauspieler in schwarzer Erde, Schlamm, Bühnenblut oder Eigelb, das Schlachten von Kaninchen und verweste Fleischbrocken aller Art, die über die Bühne geworfen werden und manchmal ins Publikum. Ich mag auch keine entwürdigenden Nacktheiten, meistens von Schauspielerinnen. Dazu Gebrüll, immer wieder Gebrüll, damit man ja nicht einschlafe. All diese Dinge habe ich auf Bühnen in den letzten zehn Jahren gesehen und keine Lust verspürt, darüber zu schreiben.
Nun gibt es zur Zeit zwei Aufführungen von Molières »Der Geizige«. Einmal in den Kammerspielen am Berliner DT unter der Regie des Martin Laberenz, zum zweiten am Rostocker Volkstheater unter Sewan Latchinian.
In den Kammerspielen beginnt das Stück damit, dass zwei übereinander herfallen und sich in die Körper beißen. Das ist einem Sportwettkampf nicht unähnlich. Eine kalte Sexualität aus voyeuristischem Blickwinkel betrachtet, die Szene dreht sich wie in einer Endlosschleife um sich selber. Der Dialog wird, wie übrigens alle folgenden, in einer sich selbst betonenden Bedeutungsüberhöhung bis zu zehnmal wiederholt, jedes Mal mit sich steigerndem Gebrüll.
Okay, dachte ich mir, die Kinder des Geizkragens sollen in ihrem ewig unterdrückten Bedürfnis, sich zu vergnügen, in ihren durch den Geizvater hervorgerufenen Neurosen sichtbar werden. Als der dann auftritt, ist die Szene nur leidlich originell. Harpagon (Michael Goldberg) steht auf schwarzer Erde, ins Dunkel getaucht, aber von hinten angeleuchtet und von unten eingenebelt. Ein Mann im Verarmungswahn. Das ganze Spiel wirkt possenhaft statt ironisch und zugespitzt. Die sich wiederholenden Brüllszenen machen es nicht besser. Goldberg gibt den Geizigen zu wuchtig. Die Autorität, die er ausstrahlen soll, scheint ihm eine grosse Last. Nacheinander werfen sich die Darsteller in die schwarze Erde, die an ihnen als Schlamm klebenbleibt, mit dem sie sich dann bewerfen.
Anders in Rostock: Es beginnt schon damit, dass die Nebenrolle des sich kratzenden Dieners des Cléante, Harpagons Sohn, mit Ulrich K. Müller sehr gut besetzt ist. Sein Spott, seine Körpersprache, sein Lispeln, alles ist stimmig, vielschichtig, listig und aufmüpfig trotz seines offensichtlichen Elends. Das ist eine unter Unterdrückungsbedingungen entstehende Figur mit einer inneren Freiheit zum Rebellentum. Und darum geht es im ganzen Stück.
Auch hier beginnt es mit der Liebeszene von Elise, Harpagons Tochter, der der Auftritt des Vaters folgt. Kein einziges Requisit auf der Bühne, schlichter Programmzettel ohne Bild und Farbe (»hier sollte ein Bild hin, aus Kostengründen eingespart«), das Publikum setzt sich auf eine Bestuhlung mit Überdecken wie in Kriegszeiten, als hätte man das Theater schon ausgemustert. Das Thema Geiz wird in Rostock weiter gefasst als nur psychologisch-freudianisch-anal. Hier erhält es soziale Dimensionen. Der Geiz wird zum Unterdrückungsinstrument. In seiner intellektuellen und emotionalen Armut, aber auch in seinen absurden Aspekten und in seiner Komik, etwa wenn Harpagon (perfekt: Bernd Färber) plötzlich das Publikum in sein Misstrauen einbezieht. Eine Machtfigur wird entlarvt. In ihr wechselt das Autoritäre, Selbstsichere mit dem Regressiven von einer auf die andere Minute. Färber blickt aus dem weißgrauen Gesicht des Harpagon, mal bedrohlich, mal panisch und manisch, mal elend und lächerlich, mal unerbittlich.
Dann die Befreiung. Keine Schlammschlachten, sondern langsam anwachsendes Selbstbewusstsein. Cléante (Johannes Moss, köstlich ungelenk und dann so kindlich aufrichtig) wird zunehmend rebellischer und auch Valère (Marco Matthes), der Geliebte von Elise (Inga Wolff) verliert seine Künstlichkeit, je mehr er mit dem Katzbuckeln aufhört.
Alles in allem ist das ein gelungener Molière mit aktuellen Zeitbezügen – auch auf die Sparwut, dies sich in Rostock gegen das Vier-Sparten-Theater und seinen Intendanten Sewan Latchinian richtet. Weil er das Theater, an das er in dieser Spielzeit erst gekommen war, verteidigen wollte, sollte er gleich wieder entlassen werden. Doch Latchinian hat nicht aufgegeben, letztlich mit Erfolg. Seine Inszenierung von »Der Geizige« hatte im Dezember Premiere, im März wurde er auf Betreiben des Oberbürgermeisters fristlos gefeuert, weil er es gewagt hatte, die Zerstörung von jahrtausendealten Weltkulturerbestätten im Irak durch den IS und die Zerstörung der Rostocker Theaterstrukturen in Beziehung zu setzen. Seine Entlassung war ein bundesweiter Skandal, im April wurde diese Entscheidung rückgängig gemacht, und im Mai wurde Latchinian das Vertrauen ausgesprochen.
Wer etwas gegen den Rostocker Sparterror tun will, der sollte von Berlin mit Mitfahrticket für rund zehn Euro nach Rostock (hin und zurück) fahren und sich eine Inszenierung von »Der Geizige« anschauen, der das Tucholsky-Kriterium für Kunst erfüllt: »Ich will nicht gelangweilt werden.«
Nächste Vorstellungen: 30.6., 12.7., jeweils 20 Uhr (Berlin), 11.7., 19.30 Uhr (Rostock)